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Birgit Loff: Täter suchen Opfer, keine Gegner - Training gegen Gewalt

Reinhard Kautz wirft einen langen Blick quer durch sein Wohnzimmer in Richtung Aquarium, wo die Barben und die Neons einträchtig zwischen Wasserpflanzen spazieren schwimmen. Anfangs hat er einige Störenfriede aus dem Aquarium herausfischen und zum Zoohändler zurückbringen müssen. Jetzt vertragen sich die Flossentiere. Ein kleines, in sich geschlossenes Universum, erheblich leichter zu befrieden als eine Metropole wie Berlin.

Dort hat es Kriminalhauptkommissar Kautz zunächst mit der Jagd nach Verbrechern versucht. Unter anderem als sogenannter V-Mann-Führer erzielte er mit Hilfe seiner Verbindungsleute in der kriminellen Szene beachtliche Fahndungserfolge. Aber ein kritischer Artikel über die Arbeit von und mit V-Leuten ließ ihn zweifeln. Mitunter zu Lasten von Opfern und Tätern würden Festnahmen verzögert, um die Beweislage zu verbessern oder doch noch Hintermänner zu fassen, so die Bedenken der Kritiker.

Damals ließ sich Kautz in die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Polizei versetzen und wandte sich der anderen Seite der Medaille zu. Seither ist die Vorbeugung vor Verbrechen auf der Grundlage von psychologischen Erkenntnissen und polizeilichem Erfahrungswissen sein Terrain. Die Tatgelegenheiten entziehen, das Entdeckungsrisiko erhöhen – also gleich dafür sorgen, dass Menschen nicht zu Schaden kommen oder schuldig werden – diese Idee treibt ihn um. Aus hunderten von Vernehmungen destillierte er die Quintessenz: "Täter sind nicht machtvoll, sondern wir machen sie mächtig, wenn wir schweigen". Vor neun Jahren hat der Polizeibeamte ein Anti-Gewalt-Training entwickelt und seither daran gefeilt.

Packen Kriminelle aus, dann werden Tatabläufe sichtbar – und ihre Ängste. Einmal dabei, erzählen sie auch, wie sie erst testen, mit wem sie es machen können und mit wem nicht. Vielleicht durch Zurufe oder eine kleine Rempeleien stellen sie ihre Opfer auf die Probe. Nur wenige Täter sind von vornherein entschlossen – und gegen die sind die Chancen verhältnismäßig gering. Aber 95 von hundert geben im Vorfeld auf, wenn sie merken, jemand ist auf der Hut. Sie flüchten, wenn Hilferufe sie verunsichern. Auf der anderen Seite schildern Zeugen, wie sie Angreifer mit ihren Schreien vertreiben konnten. "Täter suchen Opfer, keine Gegner", bringt es Reinhard Kautz auf den Punkt.

So tut er alles, damit seine Mitbürger aus der Rolle der Opfer herausfinden. Er übt mit ihnen, sofort und unüberhörbar zu verlangen, dass eine Belästigung oder ein Übergriff aufhört. Etwa wie sie mit der energischen Aufforderung: "Stopp, das will ich nicht!" gleich in der U-Bahn aufstehen und Distanz schaffen können. Und wie sie das Ärgernis öffentlich machen, etwa mit einer Bemerkung an die Umsitzenden: "Das kann doch nicht wahr sein, der beleidigt hier Fahrgäste mit fremdenfeindlichen Parolen". Ist ein Belästigter selbst nicht in der Lage zu handeln, kann ein Mitfahrer ihn zu sich holen und sich die Übergriffe verbitten.

Wenn es Ernst wird, muss man wegkommen von der Furcht vor Peinlichkeit oder den Rollenklischees, wonach Frauen nicht laut werden, weil sich das nicht gehört, und Männer nicht flüchten, weil es feige ist. Es ist vielmehr klug, einen Kampf zu vermeiden und eine von Fremden aufgezwungene Konfrontation zu beenden, vermittelt der Polizeibeamte. Aber gleich davonrennen und losschreien, schon wegen eines dummen Gefühls? Warum eigentlich nicht? Wer nichts im Schilde führt, wird dadurch kein Täter.

Wenn Reinhard Kautz in Rollenspielen seinen Mitbürgern zeigt, wie man mit Belästigungen, Beleidigungen oder kriminellen Übergriffen fertig wird, mimt er perfekt den Schurken. Im wirklichen Leben haben ihn die Gedanken und Beobachtungen über die Eskalation von Gewalt friedfertiger gemacht. Zu Hause muss er nicht mehr immer den Ton angeben, sagt er selbstkritisch. Wie sehr er sich verändert hat, ist ihm an dem Stoßseufzer eines seiner Kinder klargeworden: "Papa, du hättest mit dem Psychokram viel früher beginnen sollen!".

Immerhin 35.000 Jugendliche und Erwachsene haben bislang an seinen dreistündigen Anti-Gewalt-Kursen teilgenommen. Auch Zivilcourage gegenüber Extremismus, Rassismus, Diskriminierung und fremdenfeindlicher Gewalt lässt sich so fördern. Sich selbst helfen können, befähigt genauso, anderen beizustehen. Ermahnungen und Appelle zur Zivilcourage allein nutzen allerdings wenig. "Wer an Anti-Gewalt-Demonstrationen teilnimmt, muss noch lange nicht in der Lage sein, sich und andere aus einer demütigenden oder gewalttätigen Situation zu befreien", sagt Kautz. Wem es gelingt, der hat ein gutes Gefühl. Wer untätig bleibt oder versagt, quält sich dagegen oft mit Selbstvorwürfen. Der Grund, nicht einzugreifen, ist "meistens nicht Gleichgültigkeit oder Bosheit, sondern ganz einfach Lähmung und Unvermögen".

Ergänzend zu den dreistündigen Kursen der Polizei bietet eine Schule für Körperbewusstsein und Sicherheit nahe dem Kurfürstendamm auf Anregung von Kautz Wochenendseminare an. Dort übt man intensiv, handlungsfähig zu bleiben in Gewaltsituationen, und lernt einfache, aber effektive Abwehrgriffe. Die gemeinnützige "Initiative Schutz vor Kriminalität" ermöglicht mittellosen Bürgern – vor allem auch Opfern von Straftaten –, unentgeltlich an diesen Seminaren teilzunehmen. Staatsanwälte und Richter in verschiedenen Bundesländern bedenken den Verein mit Bußgeldzuweisungen. Polizeikollegen aus vielen anderen Städten hat der Berliner Kriminalbeamte dabei beraten, ähnliche Anti-Gewalt-Programme ins Leben zu rufen.

Daheim in einer Schublade seines Schreibtisches liegt das Bundesverdienstkreuz. Dankesbriefe aus dem Bundespräsidialamt oder dem Auswärtigen Amt, wo er Mitarbeiter fit gemacht hat für den Fall der Fälle, verwahrt er ebenso in seinen Ordnern wie Post aus Schulen, Frauenhäusern oder Altenheimen. Nur die gewünschte personelle Unterstützung in der Polizei, die hat er bislang nicht bekommen. Seit neun Jahren hält er die Drei-Stunden-Kurse alleine. Weitermachen wie bisher wird er nicht können aus gesundheitlichen Gründen. Will er die Warteliste abarbeiten und alle Kurse halten, um die man ihn bittet, benötigt er ein halbes oder ein dreiviertel Jahr.

Polizeiliche Präventionsarbeit hat einen großen Nachteil: Ihr Erfolg lässt sich kaum messen. Nur selten wird er so deutlich wie vor einiger Zeit im Berliner Tiergarten. Zwei Männer überfielen ein Paar, sie auf einer Bank sitzend, er im Rollstuhl daneben. Zunächst gingen sie mit ein paar frechen Bemerkungen vorbei, dann kehrten sie zurück. Einer der Angreifer bedrohte die Frau mit einer Flasche, sie schrie sofort um Hilfe. Ein aufmerksam gewordener Handybesitzer alarmierte die Polizei, die die beiden Täter festnehmen konnte. Sie gestanden, sie hätten mit der Flasche zuschlagen, dem Rollstuhlfahrer ein Messer an die Kehle setzen und das Paar ausrauben wollen, wären sie nicht in die Flucht gejagt worden. Beide waren sie mehrfach wegen bewaffneten Raubes vorbestraft.

Einige Wochen vor dem versuchten Überfall hatte die Frau einen Kurs bei Reinhard Kautz besucht, so schrieb sie später dem Berliner Polizeipräsidenten.

Birgit Loff, Journalistin, Berlin

Tipps gegen Gewalt von Reinhard Kautz:

  • Wachsam sein, ähnlich wie im Straßenverkehr

  • Frühzeitig, laut und bestimmt dazu auffordern, eine Belästigung, Beleidigung oder Gewalttätigkeit zu unterlassen

  • Sich und andere wenn möglich sofort aus der Reichweite von (potenziellen) Tätern entfernen

  • Schreien, auch als Beobachter, um Täter zu verunsichern und andere aufmerksam zu machen

  • Keine Waffen benutzen oder selbst Gewalt anwenden (Gefahr von Eskalation und Fehlern)

  • Zeugen gezielt ansprechen und zu bestimmten Hilfeleistungen auffordern ("Sie mit dem Handy, rufen Sie bitte die Polizei!")

  • Sich informieren, wie man sich und anderen helfen kann.

Der Polizeibeamte stellt seine Arbeit unter www.Reinhard-Kautz.de im Internet vor. Bundesweit vermittelt die "Initiative Schutz vor Kriminalität e.V." Kurse für Gruppen in Schulen, Ämtern oder Betrieben. Telefon 030-49 86 29 33, Internet www.isvk.de

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