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Solveig Vogel: "Gemeinsam erste Schritte in die Freiheit"

Elif Gencay, 30 Jahre, ist türkischer Herkunft und arbeitet seit August 2000 als Anwältin mit den Schwerpunkten Familien, Arbeits- und Ausländerrecht in einer hannoverschen Anwaltskanzlei.

Seit meiner Kindheit lebe ich zwischen den Kulturen. Mein Vater verließ die Türkei in den sechziger Jahren und ging nach Braunschweig, meine Mutter zog später nach. Dort wurde ich 1971 geboren, ein Jahr, nachdem mein älterer Bruder zur Welt gekommen war. Obwohl ich in Deutschland aufgewachsen bin, habe ich immer in zwei völlig verschiedenen Welten gelebt. Ich bin beides, deutsch und türkisch.

Als ich klein war, habe ich mir oft gewünscht, dass es bei uns "deutscher" wäre. Ich durfte so viele Dinge nicht, die für andere Kinder selbstverständlich waren. Für die war es ganz normal, sich gegenseitig nach Hause zum Spielen einzuladen. Meine Eltern hingegen erlaubten mir nur selten, jemanden mitzubringen oder Freundinnen zu besuchen. Dass bei uns so vieles anders war als in deutschen Familien, war mir peinlich. Den wahren Grund, warum ich Einladungen ablehnen musste, sagte ich deshalb meistens nicht. Statt dessen dachte ich mir etwas aus, schon im Kindergarten. Etwa, dass ich keine Zeit hätte, weil ich mit meiner Mutter und meinem Bruder in die Stadt müsse. Oder ich erzählte nach den Weihnachtsfeiertagen, wenn die anderen Kinder von ihren Geschenken berichteten, was ich alles bekommen hätte. Dabei feiern Türken dieses christliche Fest gar nicht. Bei den seltenen Besuchen von Freundinnen in meinem Elternhaus fürchtete ich dann jedes Mal, der Schwindel könnte auffliegen. Heute denke ich, die merkten das gar nicht. Mein Besuch interessierte sich wohl mehr für die schmackhaften Speisen meiner Mutter und war stets sehr angetan von ihrer herzlichen Art.

Auch sonst wurde ich sehr streng erzogen. Mein Bruder übrigens auch. Dabei ist meine Familie nicht typisch muslimisch, ich musste auch kein Kopftuch tragen. Alkohol oder figurbetonte Kleidung jedoch haben meine Eltern mir immer verboten – bis heute. Allerdings glaube ich nicht, dass sie aus religiösen Gründen so handeln, sondern weil sie mich so besser kontrollieren und behüten können. Beides gehört zusammen: Die Strenge einerseits und der Wunsch, mich zu beschützen und zu unterstützen, andererseits. Wenn ich meinen Vater heute bitten würde, mir beim Aufbau einer eigenen Anwaltskanzlei zu helfen, würde er mir ohne zu zögern das Geld dafür schenken. Das weiß ich, auch wenn ich es nie in Anspruch nehmen würde. Ich will lieber unabhängig sein.

Ich wollte schon immer Anwältin werden

Als ich zum Jura-Studium von Braunschweig nach Hannover ziehen musste, fiel es meinen Eltern schwer, mich gehen zu lassen. Doch ich setzte mich durch. Denn schon als kleines Mädchen wusste ich: Ich will Rechtsanwältin werden. Stets hatte ich meinen Vater und meine Mutter bei ihren Gängen zur Ausländerbehörde begleitet, um für sie zu dolmetschen. Und sobald ich in der Schule die ersten Worte lesen und schreiben gelernt hatte, erledigte ich sämtlichen Schriftverkehr mit Ämtern für sie. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, wie wichtig es ist, sich mit Recht und Gesetz auszukennen. Und wie gut es ist, wenn man jemanden hat, der sich für einen einsetzt.

Damit meine Eltern mich leichter loslassen konnten, tat ich mich mit einer Freundin zusammen. Gemeinsam mieteten wir uns ein Zimmer im Haus eines älteren Arztes. Mit seinen 70 Jahren war der für uns jenseits von gut und böse, das beruhigte meine Eltern. Aber auch ich fand es schön, auf diese Weise noch ein wenig behütet zu bleiben. Schließlich war ich vorher noch nie allein von zu Hause fort gewesen. Gemeinsam machten meine Freundin und ich die ersten Schritte in die Freiheit, die wir zu Hause nie hatten. Später zog ich ins Studentenwohnheim. Dort bewohnte ich zum ersten Mal ein Zimmer für mich allein. Doch auch das teilte ich bald wieder – mit einer Türkin, die gerade das Elternhaus verlassen hatte. Inzwischen lebe ich seit einigen Jahren mit einer Frau in einer Wohngemeinschaft. Ich genieße es, dass ich mich heute, anders als früher, mit Freunden treffen kann. In meiner Freizeit verabrede ich mich oft und gern, zum Reden oder auch zum Essen gehen.

Noch immer die unverheiratete Tochter

Obwohl ich nun schon so lange nicht mehr bei meinen Eltern wohne und mir als Anwältin meinen Lebensunterhalt selbst verdiene, bin ich auch mit 30 noch immer die unverheiratete Tochter. Ich darf zum Beispiel nicht alleine verreisen oder einen Freund haben. Das würde nach Auffassung meiner Eltern die Ehre der Familie verletzen und zu Schwierigkeiten innerhalb der türkischen Gesellschaft führen. Deshalb habe ich mir bisher manche Wünsche noch nicht erfüllen können. Ich würde zum Beispiel sehr gerne andere Länder kennen lernen, besonders Guatemala finde ich faszinierend. Und ich fände es toll, wenn meine Eltern einen Freund meiner Wahl akzeptieren würden, wenn ich mich einmal verliebe – auch, wenn es ein Deutscher sein sollte. Im Streit will ich solche Wünsche allerdings nicht durchsetzen, denn die Bindung zu meiner Familie spielt für mich eine große Rolle.

Auch als Juristin zwischen den Kulturen

In meinem Beruf profitiere ich davon, dass ich beide Kulturen, die deutsche und die türkische, sehr gut kenne und beide Sprachen spreche. Zu mir kommen viele türkische Mandanten, die vorher schon bei anderen Anwälten waren. Meist konnten sie sich dort nicht unmittelbar, sondern nur mit Hilfe eines Dolmetschers verständigen. Dadurch entstehen häufig Missverständnisse. Weil die Anwälte das Anliegen ihrer Mandanten oft gar nicht genau verstehen, vermögen sie auch ihre Interessen nicht optimal zu vertreten.

Übrigens kommen Türken mit ähnlichen Problemen zu mir wie Deutsche. Da ich mich neben Arbeits- und Ausländerrecht auch auf Familienrecht spezialisiert habe, geht es häufig um Ehestreitigkeiten, Scheidungen und Sorgerecht. Unterschiede gibt es aber trotzdem: Ich glaube, für türkische Frauen ist der Schritt, Rechtsbeistand zu suchen, schwieriger als für deutsche. Sie versuchen viel stärker, die Familie zusammen zu halten – oft über das Maß hinaus. Ich kläre sie über ihre Rechte auf, etwa in Unterhalts- oder Sorgerechtsfragen. Doch die juristische Seite ist eine Sache, was die Frauen davon durchsetzen wollen und können, ist oft eine ganz andere. Wer sein Leben lang erzählt bekommen hat, nichts wert zu sein, steht nicht einfach auf und kämpft. Ich kann meine Mandantinnen auf ihrem Weg nur unterstützen, gehen müssen sie ihn allein.

Allah hat die Unterdrückung nicht gewollt

Ich denke nicht, dass die muslimische Religion die Unterordnung der Frauen vorschreibt. Ich kenne viele, die streng gläubig sind, Kopftücher tragen, den Koran in- und auswendig kennen und studieren. Die lassen sich von ihren Ehemännern weniger gefallen, als so manche Deutsche. Das ist alles Auslegungssache. Es kann aber nicht der Wille Allahs sein, dass Frauen unterdrückt und misshandelt werden. Deshalb ist Aufklärungsarbeit ganz wichtig, beispielsweise im muttersprachlichen Unterricht oder in den Moscheen. Doch dafür müssen viele aus der türkischen Gesellschaft erst noch umdenken. Das ist ein langer Prozess, der sich nur langsam vollzieht.

Ausländern die Einbürgerung erleichtern

Wichtig ist auch, dass sich Ausländer in Deutschland integrieren. Ich fände daher den Zwang zur Teilnahme an einem Sprachkurs gar nicht schlecht. Zum eigenen Vorteil derer, die sich sonst hier kaum verständigen können. Dadurch würden sie sich besser zurecht finden und mehr Freundschaften auch mit Deutschen schließen. Türkische Frauen hätten so viel eher die Möglichkeit, neben dem familiären Leben auch eigene Wege zu gehen. Sie würden leichter einen Job finden und unabhängiger sein.

Auf der anderen Seite bin ich der Ansicht, ausländischen Menschen das Leben und die Einbürgerung in Deutschland zu erleichtern. Als Juristin erlebe ich oft, wie willkürlich Sachbearbeiter in den Behörden über Bleiben oder Nichtbleiben von Ausländern entscheiden. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn Familien auseinander gerissen werden, Eltern wieder in die Türkei müssen oder Kinder nicht nachziehen dürfen. Oder wenn die Aufenthaltsgenehmigung von geschiedenen Ehepartnern nicht verlängert wird. Es kann doch nicht angehen, dass nur Eliteausländer in der Bundesrepublik willkommen sind. Ich plädiere dafür, dass alle Nichtdeutschen nicht erst dann eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sich für einen bestimmten Arbeitsplatz kein Deutscher findet. Sozialhilfe ist kein guter Ausgangspunkt für die Integration.

Ich wünsche mir die doppelte Staatsbürgerschaft. Wir gehören doch tatsächlich beiden Kulturen an. Warum soll ich mich dann zwischen den Staaten entscheiden müssen?

Das Gespräch führte Solveig Vogel, freie Journalistin, Hannover

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