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Adriane Borger: "Gott hat uns keine Grenzen gesetzt"

Noura Rouchou wurde 1953 in Tunesien, in der Nähe von Hamamed geboren, stammt aus einer Mittelstandsfamilie und ist das älteste von acht Kindern.

Nach der neunten Klasse kam ich auf eine Fachschule für Lehrer und Lehrerinnen, ein Internat. Nur die besten werden da genommen, denn alles bezahlt der Staat. Nach fünf Jahren Ausbildung war ich anerkannt als Lehrerin bis zur neunten Klasse.

Mein Vater war Fernfahrer. Wir waren nicht reich, aber auch nicht arm. Meine Mutter war sehr kultiviert. Sie konnte schreiben und lesen und wollte auch ein Lehrerstudium machen. Aber damals galt das noch als Schande, wenn ein Mädchen weitermacht. Ihr Vater wollte das nicht. Aber sie war aktiv in Frauengruppen in Tunesien und hat sich sehr engagiert für andere Frauen, die nicht lesen und schreiben konnten.

Mein Vater ist gestorben, bevor ich meine Ausbildung beendet hatte. Meine Mutter hat darum gekämpft, unseren Lebensstandard zu halten. Leider ist sie drei Jahre nach meiner Ausbildung auch gestorben. Das war 1979, fünfzehn Tage vor meiner Hochzeit. Die Hochzeit mit meinem Mann war ganz traditionell. Mein Mann war schon neun Jahre in Deutschland, er hatte keinen Kontakt mit tunesischen Mädchen. Er hat seinem Schwager gesagt, wie ungefähr seine Frau sein sollte. Und der ist zu meiner Mutter gekommen und hat gesagt, dass er für seinen Schwager eine Frau sucht. Er fand, ich sei die richtige.

Für mich war das damals die schlimmste Zeit. Bei einem Mädchen in diesem Alter in Tunesien klopfte fast jeden Tag ein Bewerber an. Und wenn man nein sagte, musste man das begründen.

Mein erster Bewerber kam, als ich sechzehn war. Gott sei dank haben meine Eltern gesagt, nein, unsere Töchter heiraten nicht, bevor sie nicht ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Damals hat höchstens die Hälfte der tunesischen Bevölkerung so gedacht.

Ich wollte auch nicht sofort nach dem Studium heiraten – von einem Internat in ein anderes, um Gotteswillen! Da habe ich gedacht: "Mensch, dieser Mann wohnt in Deutschland, der kommt nur einmal im Jahr. Ich sage jetzt ja, ich nehme den, dann habe ich elf Monate für mich. Wenn er dann kommt und er gefällt mir nicht, dann sag ich nein und habe wenigstens ein Jahr Ruhe gehabt."

Ende Juli `78 ist er nach Tunesien ge-kommen. Wir hatten eine Woche zusammen – und es hat geklappt. Ich weiß nicht, das war vielleicht vorbestimmt – in unserer Religion sagt man: im Himmel vorgeschrieben. Nach drei Wochen haben wir unsere Eheschließung gemacht, gleich danach ist mein Mann wieder nach Deutschland gefahren und kam erst zur Hochzeit im Juli `79 wieder nach Tunesien. In der Zwischenzeit haben wir uns Briefe geschrieben und uns angerufen.

Ich habe nie gedacht, dass ich von zuhause weggehe. Es gab viele Männer, die mich heiraten wollten, aber wenn die zwanzig Kilometer von meiner kleinen Stadt entfernt wohnten, hat meine Mutter nein gesagt. Nach dem Tod meines Vaters war ich als ältestes Kind für sie die Schwesiter, die Mutter, alles, und sie wollte, dass ich in der Nähe bleibe. Und ich wollte auch nicht von ihr und meinen Geschwistern weg. Als meine Mutter so krank wurde, habe ich gedacht, warum nicht einen Nachbarn heiraten, dann kann ich ab und zu reingucken bei meinen Geschwistern, so jede Stunde. Und dann ist es ganz anders gekommen, er war kein Nachbar und er wollte mich mitnehmen in die Nähe vom Nordpol. Ich hatte Angst, drei, vier Kilometer weit von zuhause weg zu sein – und jetzt bin ich dreitausend Kilometer weit von zuhause.

Drei Wochen nach der Hochzeit sind wir nach Wolfsburg gekommen, 1980 wurde meine Tochter geboren und 1983 mein Sohn Emin. Ich bin so lange zuhause geblieben, bis meine Kinder in der Schule waren.

1987 habe ich dann versucht, einen Job zu bekommen. Aber das war nicht so einfach. Ich wollte nicht putzen gehen oder so. Ich habe dann als Nachhilfelehrerin für ausländische Kinder gearbeitet, bevor ich beim Ausländerreferat Sozialberaterin für tunesische Mitbürger und später Sozialberaterin für alle Araber in Wolfsburg wurde. Doch eigentlich wollte ich immer nur Lehrerin sein. Seit acht Jahren unterrichte ich nun und bin sehr glücklich damit. Ich gebe 25 Stunden pro Woche Hoch-Arabisch und habe zur Zeit sieben Klassen mit 105 Schülern und Schülerinnen zwischen sechs und 20 Jahren. Es sind Tunesier, Libanesen, Syrer, Algerier, Palästinenser und Iraker.

Seit meiner Ankunft in Deutschland sind 21 Jahre vergangen. Ich finde, man muss zeigen, dass man sich anpassen und integrieren kann, dann kriegt man keine Probleme. Ich wohne in einem kleinen Dorf bei Wolfsburg und habe überhaupt nicht das Gefühl, Ausländerin zu sein. Die Nachbarn sind alle Deutsche, die grüßen jederzeit, wir sitzen manchmal zusammen oder unterhalten uns an der Haustür.

Ich habe das wohl von meiner Mutter geerbt, dass ich so aktiv bin in der Frauengruppe. Es fing an in der Zeit, in der ich beim Ausländerreferat gearbeitet habe. Da habe ich für die tunesischen Frauen Nähkurse organisiert, Computerkurse, Stricken, Ausflüge. Ich versuche, die Frauen ein bisschen von zuhause weg zu holen. Die Männer haben nie Zeit für ihre Frauen. Am Anfang wurde das von den Männern schon ein bisschen schief angeguckt, aber jetzt wissen sie, dass die Frauen in guten Händen sind.

Und dann mache ich die Schulabschlussfeiern. Am Ende des Schuljahres werden Geschenke an die vier Besten verteilt und Kleinigkeiten an alle Schüler und Schülerinnen, damit sie nicht mit leeren Händen nach Hause gehen. Die Kinder singen, lesen aus dem Koran vor und führen Sketche auf. Wir machen eine Modenschau oder eine Miss-Wahl und der Konsul übergibt die Preise.

Das macht viel Arbeit. Ich schreibe Firmen an wegen Spenden. Ich mache kleine Tüten, mit Süßigkeiten, mit Kugelschreibern, mit Aufklebern, mit kleinen Spielen drin, die ich bei der Abschlussfeier an alle Schüler und Schülerinnen verteile. Und dann organisiere ich noch Geschenke für die vier Besten aus allen sieben der Klasse – alles aus Spenden.

Herr Schröder hat mich 1997 für meine ehrenamtlichen Aktivitäten mit einer Urkunde ausgezeichnet und vor kurzem auch der Oberstadtdirektor von Wolfsburg. Vorletztes Jahr habe ich ein Freiflugticket von unserer Regierung bekommen, damit ich beim Frauentag in Tunesien als Ehrengast an den Veranstaltungen teilnehme. Ich finde das sehr gut. Wir werden nicht bezahlt, aber es reicht schon, wenn man ab und zu eine kleine Anerkennung bekommt.

Die deutsche Regierung und die Behörden sind offen für alle Ausländer. Auf der Ausländerbehörde hier versuchen sie, den Ausländern zu helfen. Ich habe Kontakte mit vielen ausländischen Vereinen und finde, die werden sehr gut unterstützt von den deutschen Behörden, sowohl finanziell wie auch moralisch. Aber ich habe auch die Wiedervereinigung erlebt. Das war für uns Ausländer ein Schreck, dass wir uns auf einmal Rassismus und Rechtsradikalen gegenüber gesehen haben. Vorher hatten wir solche Probleme überhaupt nicht.

Es kann ja sein, dass die Recht haben. Sie fühlen sich als Deutsche, sie kommen als erste dran. Aber sie haben vergessen, dass Westdeutschland seit 1960 auf den Schultern der Ausländer steht. Inzwischen braucht man die Hilfe der Ausländer nicht mehr – okay, doch wir haben ein Sprichwort in Tunesien: Man kann die Frucht nicht ohne die Körner nehmen. Aber wir sehen, dass unter den Deutschen nicht die Mehrheit Rassisten sind. Es ist eine Minderheit.

Die aktuelle Einwanderungsdebatte finde ich schwierig. Wenn man logisch darüber nachdenkt, ist es einleuchtend, dass man aussucht, wer kommen soll und wer nicht. Ich finde das auch richtig, dass einer, der hier arbeiten möchte, eine Ausbildung oder irgendwelche Kenntnisse mitbringen muss. Jedes Land, ob Tunesien oder Deutschland, Algerien oder Österreich, jedes Land muss erst einmal dafür sorgen, dass die eigene Bevölkerung Arbeitsplätze bekommt.

Aber wenn man mit dem Herzen denkt, mit dem Gefühl, muss man sagen: "Die Erde ist uns von Allah gegeben, vom lieben Gott, und soll für alle Menschen offen bleiben. Warum sollen die Menschen nicht von Tunesien nach Deutschland oder von Deutschland nach Tunesien wandern? Der liebe Gott hat uns keine Grenzen gesetzt." Das sind so die beiden Schalen der Waage.

Man sollte versuchen, den Einwanderern beizubringen, was ihre Pflichten und Rechte sind. Denn viele kommen hier her und denken: "Deutschland ist ein liberales Land, ich kann hier alles machen", aber sie denken nicht daran, was sie müssen. In Tunesien zum Beispiel gibt es überall Polizisten. Jede Kreuzung wird kontrolliert. Nicht weil es eine Diktatur wäre, nein, das ist für unsere Sicherheit. Wenn ich in Tunesien um Mitternacht rausgehe, fühle ich mich ganz sicher.

Und wenn ein Tunesier hierher kommt und sieht keine Polizisten auf der Straße, dann denkt er, hier ist die Freiheit. Er weiß nicht, dass die Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sich selbst beaufsichtigen. Ich weiß, dass ich nicht über Rot fahren darf, dass ich vor meinem Haus bei Schnee oder Glatteis streuen muss, dass ich meine Steuern bezahlen muss. Solche Sachen muss man den Leuten erst einmal beibringen.

Ich finde, man muss das Prinzip haben: Ich tue meine Pflicht, dann bekomme ich meine Rechte. Nicht: Ich verlange meine Rechte, und dann tue ich meine Pflicht. Es ist umgekehrt.

Das Gespräch führte Adriane Borger, freie Journalistin, Hannover

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