Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung Niedersachsen klar Logo

Daniel Satra: "Jeder hat sein Kochrezept für's Leben"

Behzad P. kam vor 16 Jahren aus dem Iran in die Bundesrepublik. Heute ist der 40-Jährige Taxifahrer in Göttingen.

Das erste, was ich dachte, war: "Sehr, sehr kalt hier in Deutschland." Vor 16 Jahren in der Wohnung meines iranischen Freundes bei Heidelberg. Seit wir drei Jahre alt waren, kannten wir uns – nun trafen wir uns wieder. Alte Freunde in einem neuen Land. Zwei Wochen lang saß ich da, verzweifelte fast: "Ich verlasse dieses Land, diese Kälte halte ich nicht aus", spukte es in meinem Kopf herum, Tag und Nacht. Ich kam nicht zur Ruhe. Im Iran ist es warm, in der Provinz Gillan am Kaspischen Meer trocken und sonnig. Dort bin ich aufgewachsen, von dort aus bin ich aufgebrochen. Aber warum nach Deutschland und nicht nach Spanien? In Barcelona hatte alles für mich bereitgestanden. Ein Freund meiner Familie wollte mich aufnehmen, mir helfen, einen Studienplatz für Zahnmedizin zu bekommen. Doch es war 1985 Krieg zwischen dem Iran und dem Irak. Die politische Situation im Land war gespannt. In Teheran bekam ich kein Visum für Spanien. Wie viele andere Iraner hatte ich damals einfach Pech. Dennoch: Ich hatte mich entschlossen zu gehen, der Enge im Iran zu entkommen. Mit dem Auto fuhr ich in die Türkei. Auch in Ankara wurde mir ein Visum für Spanien verweigert. Immer gab es Wege, ein Visum für viel Geld zu bekommen. Doch viel Geld hatte ich nicht. Über einen zufälligen Kontakt erhielt ich ein Visum für Deutschland – für einen Monat, ohne zu zahlen. Dieses Mal hatte ich also Glück.

Zwei Wochen in Süddeutschland: Ich habe gezögert und über meine Möglichkeiten nachgedacht. Das liegt daran, dass ich zuerst alles genau betrachte. Ich muss Fragen an die Situation stellen, alles abwägen – erst dann entscheide ich. Im Iran hatte ich nach dem Abitur zwei Jahre Militärpflichtdienst geleistet, ohne ins Kriegsgebiet zu müssen – mein Vorgesetzter mochte mich, ich hatte Glück. Danach bekam ich Arbeit als Finanzbeamter einer Behörde. Das war nicht schlecht, aber nicht alles: Mein Traum mit Anfang zwanzig war, Zahnmedizin zu studieren. Neben meiner Beamtenstelle arbeitete ich nachmittags bei einem Freund im Zahnlabor. Doch das Studium blieb ein Traum: Nach der Kulturrevolution waren die Universitäten wie gelähmt, viele waren geschlossen, die Chance auf einen Studienplatz nahe Null. Das Ausland schien mir die einzige Möglichkeit. Das also war meine Ausgangslage.

Darüber dachte ich diese ersten zwei Wochen in Deutschland nach. Ich entschied mich zu bleiben und mich an das Wetter zu gewöhnen.

Studiert hab ich nie, leider. Zwei Jahre wartete ich auf einen Studienplatz. Die Quote für Ausländer an deutschen Universitäten lag etwa bei drei Prozent. Ich gehörte wohl nicht zu ihnen. Da ich mich entschieden hatte zu bleiben und zu warten, lernte ich in der Zwischenzeit Deutsch. Mit einem kleinen Heft und einem Stift zog ich los, verließ die Wohnung, um mit dieser neuen Welt in Kontakt zu treten. Wenn ich Worte nicht verstand, hielt ich mein Heftchen hin und ließ sie mir aufschreiben. Zu Hause blätterte ich dann stundenlang im Wörterbuch. "Du musst raus unter die Menschen, sie fragen, dich deiner neuen Lage stellen", dachte ich damals. Das gilt auch heute noch. Anders wäre ich außen vor geblieben. Ohne das Fragen, ohne die Sprache, lässt dich jede Gesellschaft links liegen oder unterdrückt dich – egal in welchem Land. Das geht Europäern in Persien nicht anders als Ausländern in Deutschland.

Ich blieb am Ball, lernte die Sprache und einige Menschen kennen. Als ich merkte, dass ein Studium immer aussichtsloser wurde, begann ich kurzerhand eine Ausbildung als Elektromechaniker. Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits nebenher als Taxifahrer – zwei Mal die Woche nachts und am Wochenende. Der Sonntag Nachmittag blieb zum Lernen frei. Fast zwei Jahre hatte ich danach eine tolle Stelle bei einer kleinen Firma, bis sie Pleite ging. Ich wurde als letzter eingestellt und musste als erster gehen. Ich ging nach Göttingen und blieb.

Heute bin ich 40 Jahre alt. Taxifahrer in einer sympathischen Stadt – in Deutschland. Als ich den Iran mit 24 Jahren verließ, dachte ich: "Du gehst ins Ausland studieren und kommst dann zurück". Das Schicksal hatte offenbar andere Pläne mit mir. Aber war ich zum Taxifahrer bestimmt? Nein, sagte ich mir und besuchte Weiterbildungen und machte eine Fortbildung für Mikroelektronik. Doch eine Stelle bekam ich trotzdem nicht. Bis heute. Taxifahren bedeutet für mich auch: Hier lernst du Leute kennen, vielleicht ergibt sich so die Chance auf einen Arbeitsplatz. Leute habe ich in diesem Job viele getroffen. Und unglaublich unterschiedliche: Professoren, Penner, Ärzte, Studenten, Deutsche und Ausländer.

Alle haben Probleme, alle haben unterschiedliche Meinungen und jeder hat sein eigenes Kochrezept fürs Leben. Auch Penner sind sehr interessante Persönlichkeiten – vom Kopf her, die haben Pech gehabt und machen sich unglaublich viele Gedanken, was schiefgelaufen ist. Ich rede viel mit meinen Fahrgästen, höre ihnen zu und diskutiere mit ihnen. Manchmal hilft es. Mir und ihnen. Aber manchmal gibt es seltsame Menschen, die mich nicht akzeptieren. Sie fragen dann: "Wann verlässt du Deutschland wieder, wann gehst du dahin zurück, wo du hergekommen bist?". Da helfen selbst lange Diskussionen nichts, diesen Menschen fehlt einfach der Respekt. Ich glaube nicht, dass sie ausländerfeindlich sind, sie verstehen mich einfach nicht. Ich sage dann: "Ich wollte ja gar nicht hierher kommen, ich kannte ja Deutschland gar nicht". Das verstehen sie nicht. In jeder Gesellschaft gibt es seltsame Menschen.
Im Iran leben rund 3 Millionen Afghanen. Ihre Probleme sind die gleichen wie die der Ausländer hier, daher kann ich das nicht so ernst nehmen. Was mich dennoch ärgert ist, dass Deutsche am Ende einer Diskussion sehr oft auf ihrem Standpunkt beharren, nicht Meinung neben Meinung stehen lassen können. Fast so, als wollten sie sagen: "Wir Deutschen, wir Europäer haben euch etwas voraus. Wir sind besser". Schön wäre es, wenn sich das änderte. Viel ist schon passiert. Seit die Medien in den vergangenen Jahren das Thema aufgegriffen haben, seitdem viel über Ausländer und ihre Probleme berichtet wird. Das hilft. Die Menschen denken mehr nach, bevor sie losreden. Unterschiedliche Meinungen sind für mich sehr wichtig. Das gefällt mir an Deutschland: Wenn dir etwas nicht passt, kannst du es laut sagen – je lauter, desto besser. In Persien musste ich sehr leise reden, am besten auch leise denken. Aber die Situation dort ist besser geworden, die jungen Leute im Iran haben viel erreicht, man kann heute seine Meinung sagen, ohne gleich verfolgt zu werden – wenn auch leise.

Zwölf Jahre war ich nicht in Persien. Ich sage lieber "Persien" und nicht "Iran" – der Iran ist ein Staat, Persien aber heißt für mich: 7000 Jahre Kultur. Eine Kultur, zu der ich gehöre – in ihr sehe ich ein Zuhause. Auch wenn ich nicht gläubig bin.

Zwölf Jahre hatte ich meine Familie nicht gesehen. Meine Eltern waren mittlerweile gestorben. Das war wie ein Berg auf meinen Schultern. Die politische Lage im Iran war immer kritisch. Meine Angst hielt mich davon ab, nach Hause zu fliegen. Die Angst, etwas Falsches zu sagen und Schwierigkeiten mit den Behörden zu bekommen. Seit 1997 fliege ich einmal im Jahr für einige Wochen nach Persien. Und noch immer habe ich das Gefühl, dass etwas schief gehen könnte. Mein ganzes Leben dort, diese wichtige Zeit, die ich zu Hause verbracht hatte, diese ganzen Erinnerungen: All das überkam mich hier in Deutschland ständig. Ich musste zurück zur Familie, meine acht Geschwister wieder zusammen sehen, sie erleben, wie sie alle ihre Geschichten erzählen.

Doch nach ein paar Tagen dort merke ich immer, warum ich damals weggegangen bin und was ich an meinem Leben in Deutschland mag: Nicht nur die politische Enge, auch die Enge der Familie hat mich immer gestört. In Persien entscheidet alles die Familie, nichts du selbst. Der Tagesablauf ist vorgegeben, alle wissen über alles Bescheid und mischen sich ein. Ich war aber nie der stille Mensch, der zurückgezogen in der Familie lebt. Ich war selbstbewusst und wollte raus. Das hat mir geholfen wegzugehen.

Seit zehn Monaten bin ich Vater einer Tochter, seit drei Jahren verheiratet. Meine Frau lernte ich bei einem Fest in Persien kennen. Das war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick. Ich nahm sie mit nach Göttingen. Jetzt lernt sie Deutsch mit meinen Heftchen von früher. Auch sie hat sich an das Wetter hier noch lange nicht gewöhnt.

Das Gespräch führte Daniel Satra, freier Journalist in Göttingen

zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln