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Katharina Ayroud-Peter: Spurensuche - Über die Wahrnehmung von Gewalt

Sind Sie schon einmal Opfer von Gewalt geworden? Nein? Dann können Sie sich glücklich schätzen. – Es könnte aber auch sein, dass Sie bestimmte Ereignisse, Erfahrungen oder Handlungen gar nicht mit dem Begriff "Gewalt" in Verbindung bringen.

In unserer Alltagssprache gibt es vielfältige Ausdrucksformen, die mit dem Wort "Gewalt" in Verbindung stehen. Sie reichen von Begriffen, die sich auf die Ausübung physischer und psychischer Gewalt beziehen (Gewalttat, Gewaltverbrechen, gewalttätig, gewaltsam), über Begriffe, die sich auf Zusammenhänge von staatlicher Gewalt beziehen (Gewaltherrschaft, Gewaltverzicht), bis hin zu Begriffen, die die menschliche Wahrnehmung alltäglicher Erlebnisse und Ereignisse bezeichnen wie gewaltig, Gewaltmarsch, höhere Gewalt u.v.m. Die Vielfältigkeit der sprachlichen Ausprägung des Begriffs verweist zugleich auf die Vielgestalt der damit in Zusammenhang stehenden möglichen Ereignisse. Ob Gewalt auch als solche wahrgenommen wird, hängt somit von einem Zusammenspiel aus eigenen Erfahrungen und gewohntem Sprachgebrauch ab.

Als dritter und bedeutender Faktor wirken kognitiv erlernte Definitionen. Dazu ein Beispiel: Wir alle kennen die Diskussion darüber, ob der "kleine Klaps" auf die Hand oder den Po eines Kindes eine Form physischer Gewalt ist oder ein legitimes und sinnvolles Instrument elterlicher Erziehung. Die Antwort auf diese Frage hängt auch davon ab, was wir selbst als Kind erfahren haben – ob wir selbst darunter gelitten haben, ob wir diese Erfahrung entbehren durften und wie diese Handlung während unseres Spracherwerbs bezeichnet wurde. Nicht zuletzt ist auch wichtig, ob und wie wir uns selbst als Erwachsene mit dieser Handlung rückblickend auseinandergesetzt haben. Diese drei Faktoren – eigene Erfahrung, persönliche Sprachentwicklung und kognitive Reflexion – bilden die entscheidende Grundlage dafür, ob und in welcher Weise wir ein Ereignis als Gewalt wahrnehmen.

Die Bereitschaft zur Wahrnehmung von Gewalt und einer möglichen Reaktion darauf wird jedoch zudem von inneren Motiven mitbestimmt. Eine von Gewalt geprägte Situation auch als solche erkennen zu wollen, setzt den persönlichen Willen, sich mit der Situationen auseinander zu setzen und Verantwortung zu übernehmen, voraus. Hierbei spielen persönliche Betroffenheit und Identifikation mit dem Gegenüber eine entscheidende Rolle.

Gewalt wird als solche wahrgenommen, wenn sie mich oder mein persönliches Erleben mittelbar oder unmittelbar betrifft. Eine persönliche Reaktion ist davon abhängig, inwieweit ich mich mit der Person, die von Gewalt betroffen ist, identifizieren kann. Je näher die Situation in Verbindung mit meiner eigenen Lebensgestaltung steht, desto leichter gelingt eine Identifikation. Gut zu beobachten war dies an den Reaktionen der Europäer nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York. Große Betroffenheit gab es überall. Aber die Menschen, die engeren Kontakt zu Angehörigen islamischer Kulturen hatten, sahen die westliche Welt weniger in der Opferrolle als diejenigen, die wenig über diesen Kulturkreis, die politischen Zusammenhänge oder damit verbundene emotionale Bindungen wussten. Natürlich haben alle Mitgefühl für die Opfer empfunden und die Tat als schockierend und grausam bewertet. Aber die größeren Kenntnisse über die Zusammenhänge führten zu einem differenzierteren Täter-Opfer-Bild.

Wann sehen wir einen Menschen also in der Täter- und wann in der Opferrolle? In der Regel wird derjenige von uns als Täter begriffen, den wir bei der Ausübung von Gewalt direkt wahrnehmen. Entsprechend befindet sich für uns jene Person in der Opferrolle, der Gewalt angetan wird. Diese Sichtweise ist jedoch nicht immer richtig und kann zu einseitigen Betrachtungen und zur Verschärfung von Konflikten führen. Dies wird deutlich, wenn wir uns die Klagen von Lehrern und Lehrerinnen über zunehmende Gewalt in der Schule besonders durch Schüler ausländischer Herkunft anschauen. Diese Entwicklung wird in erster Linie in der rigiden Erziehung oder in der Vernachlässigung durch die Eltern begründet. Obwohl die Lehrer also schon vermuten, dass auch diese gewaltbereiten Kinder bereits Opfer physischer oder psychischer Gewalt geworden sind, verurteilen sie sie dennoch als Täter und bedrohen oder bestrafen sie z.B. mit Ausschluss vom Unterricht. Formen struktureller Gewalt und ihre Folgen, die sich z.B. aus mangelnden Kenntnissen in der deutschen Sprache oder aus der permanenten Abwertung oder erzwungenen Verleugnung der Herkunftskultur ergeben, bleiben dagegen meist unberücksichtigt.

Wenn wir Situationen der Gewalt wahrnehmen und diese bewerten, dürfen wir uns also nicht nur mit dem scheinbar Offensichtlichen befassen, sondern müssen uns immer auch mit den möglichen damit in Verbindung stehenden Hintergründen auseinander setzten. Wir haben demnach zu fragen: Wo liegt die Grenze zwischen Verteidigung und Angriff?

Das bedeutet, dass wir uns nicht zuletzt auch mit den Folgen von Gewalt auseinandersetzen müssen. Denn Gewalt hinterlässt Spuren, die wiederum Ursache für das gewaltbereite Verhalten sein können, ebenso wie sie unsere Wahrnehmung und Handlungsbereitschaft im Umgang mit Gewalt beeinflussen.

Katharina Ayroud-Peter, freie Fachjournalistin für sozialpolitische Fragen, Hannover

Hinweis:

Intensiv haben sich Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Regionen in Deutschland mit diesem Thema auseinandergesetzt. Berichte über ihre Projekte und Erfahrungen sowie Anregungen zum Thema wurden von der Arbeitsgemeinschaft Jugend & Bildung e.V. in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium des Innern in der Zeitschrift "basta" veröffentlicht und können im Internet unter www.basta-net.de nachgelesen und bestellt werden.

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