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Hans-Jürgen Riefkogel: Einmischen oder sich raushalten? Wenn sich Kinder und Jugendliche "kloppen"


Darüber scheint Einigkeit zu herrschen: Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nimmt an bundesdeutschen Schulen zu. Wie soll man dieser Entwicklung begegnen? Ein Lehrer nimmt Stellung.

In der großen Pause: Mirko jagt Anna (beide 14) über den Schulhof, sie boxen, kratzen, kneifen sich. Minuten später in einem Klassenzimmer: Max, 15 Jahre, 1,50 m groß und 70 Kilo schwer, ringt mit Dirk ächzend und stöhnend zwischen den Bänken. Auch Dirk ist 15 und bringt 70 Kilo auf die Waage, er ist aber wesentlich größer als Max.

Im Schulraum nebenan stehen sich Turgay und Ugur, beide 11, am ganzen Körper zitternd kampfbereit gegenüber, die Fäuste geballt, der ganze 5. Jahrgang drumrum. Auf dem Schulhof: Michael, 17, stellt einen Fuß auf Audin, 15. Der sagt lächelnd: "Alles nur Spaß." Beliebige Szenen aus bundesdeutschen Schulen. Die Gewalt nimmt zu. "Wir regeln unsere Konflikte gewalt- und aggressionsfrei", formuliert die Schulsatzung einer hannoverschen Gesamtschule. Also interveniert die Aufsicht in allen Fällen: "Hört auf, gebt euch die Hand und vertragt euch!" Doch kaum hat sie sich umgedreht, wird Anna den Mirko jagen, Dirk und Max werden weiter ringen, Ugur und Turgay geben sich die Hand – um gleich unter dem Gejohle der anderen richtig "zur Sache" zu gehen. Und Michael tritt Aydin in den Magen. So machen die Schüler weiter, mal wieder hat Schule versagt.

Wir Aufsichtspersonen könnten die Probleme auch einfach delegieren und zum Beispiel sämtliche Streithammel zu den "Schülerkonfliktlotsen" schicken, die es schon an vielen Schulen gibt. Doch unsere Beteiligten würden wahrscheinlich gar nicht verstehen, was sie da sollen. Welche Interventionsmöglichkeiten haben wir also noch? Jetzt stelle ich mir "Ungeheuerliches" vor: Ich lasse Mirko und Anna weiter jagen und Max und Dirk weiter ringen. Ich ermuntere Turgay und Ugur zum Kampf, biete mich aber als Schiedsrichter an und schicke die Gaffer nach draußen. Michael allerdings befördere ich zum Beratungslehrer/ zum Rektor oder nach Hause und Aydin wird ein Gespräch angeboten. Und dann? Dann hätte ich angemessen und den Jugendlichen adäquat gehandelt, so wage ich mal zu behaupten.

Kräfte messen ist "normal"

Denn das "Ungeheuerliche" sieht für mich so aus: Anna und Mirko haben sich schon öfter gekabbelt, was im Spiel der Geschlechter altersgemäß ist. Ich habe also keinen Grund, mich hier einzumischen.

Zwischen Dirk und Max gibt es seit längerem latente Spannungen, der Ringkampf ist ihr "Ventil", diese Spannungen auszuleben und gegenseitig ihre Körperlichkeit zu erfahren. Denn wo können Jungen in der Adoleszenz ihre Sehnsucht nach Körperlichkeit ausleben? Der Vater wehrt sich meist gegen ihre Berührungen (das ist "unmännlich"), von der Mutter nabeln sie sich gerade ab. Und Mädchen sind höchstens im "Spiel" schon erreichbar (siehe Mirko und Anna). Außerdem ist die Angst vor Homosexualität in diesem Alter enorm groß. Es bleibt also nur noch das Ringen und Balgen, da ist Körperlichkeit akzeptiert. Greift Schule hier mit einem "Gewaltverbot" ein, bleibt den Jungen kein Raum mehr, Körperlichkeit zu leben.

Turgay und Ugur sind aus irgend welchen Gründen stinksauer aufeinander. Und weil das alle in der Klasse wissen, stehen die beiden im Mittelpunkt – was sie zusätzlich anstachelt. So sehr sie das vielleicht genießen mögen: jetzt dürfen sie nicht versagen und im Kampf unterliegen. Der Erfolgsdruck lastet zentnerschwer. War der Anlass auch noch so banal – es gibt kein Zurück. Sind aber die Gaffer erst weg, verfliegt meist auch die Spannung. Die beiden werden sich eine Zeit lang unsicher gegenüberstehen, dann aber vielleicht lachen – der Konflikt hat sich entspannt.

Sollte er aber nicht gelöst sein: Warum sollten sie ihn nicht handgreiflich beenden? Klare Regeln schützen auch den Unterlegenen, so haben Jungen seit Generationen Konflikte "gewalttätig" gelöst. Zwingen wir sie dagegen – "pädagogisch wertvoll" –, sich künstlich zu vertragen, dann zwingen wir sie gleichzeitig, ihre Gefühle "wegzumachen". Das haben sie aber sowieso schon gelernt, denn es entspricht der überlieferten Norm von "Männlichkeit", die es ja gerade zu überwinden gilt. Bei Michael und Aydin liegen die Dinge anders: Aydins gequältes "Alles nur Spaß" ist völlig unglaubwürdig. Er wird hochgradig gedemütigt, Michael spielt gewalttätig seine Macht aus. Und er zwingt Aydin auch noch, sich und seine Gefühle zu verleugnen. In Wirklichkeit ist dem nämlich bestimmt zum Heulen zu Mute.

Darum muss man beide trennen und mit ihnen auch getrennt arbeiten: Aydin wird als Opfer geschützt, er braucht Raum, seine Verletzungen, seine Trauer und Wut zu äußern – und zwar vom Täter getrennt. Michael muss lernen, für sein Tun Verantwortung zu übernehmen, seine Gewaltbereitschaft zu erkennen und dagegen zu arbeiten. Dabei braucht auch er Hilfe.

Aggressiv ist nicht gewalttätig

Schule sollte sich frei machen vom Gedanken des aggressionsfreien, "gewaltlosen" Bildes einer Konfliktlösung. Denn Aggression ist nicht die Vorstufe zur Gewalt, sondern bedeutet (etymologisch) "herangehen an". Das heißt: hier wird eben keine Grenze überschritten wie bei der Gewalt (da schlägt ein Gewalttäter seine Gefühle durch die Tat weg), sondern an die Grenze des Gegenübers herangegangen. Zwei Grenzen begegnen sich, es entsteht Kontakt.

Natürlich erscheint gerade Lehrerinnen ein aggressiver Junge bedrohlich, obwohl er nichts anderes als Kontakt sucht. Nur: Jungen haben eben kaum die Möglichkeit, ihre Gefühle zu äußern. Würde ein 15-Jähriger weinen, so ist uns das trotz besseren Wissens ("auch Männer haben Gefühle") peinlich. Wir sind eher geneigt, ein weinendes Mädchen zu trösten. Wer trös-tet schon einen weinenden Jungen? Zeigt der aber Wut oder Aggression, also ebenso starke Gefühle wie z.B. Trauer, dann finden wir das bedrohlich. Wenn wir jedoch wollen, dass auch Jungen/Männer Gefühle äußern und zeigen dürfen und sollen, dann müssen wir lernen, uns auf sie auch einzulassen und mit ihnen umzugehen. Werden Wut und Aggressionen unterdrückt, wird der Junge/Mann irgendwann zu schlagen. Wer sich nicht mit anderen messen darf, kann auch nicht die Grenzen des anderen (und seine eigenen!!) kennen lernen.

Beim Raufen wegsehen ...

"Buffen" nennt man in Norddeutschland eine "nicht ernst gemeinte" Prügelei. Viele Jungen raufen sich. In dem Alter trafen wir uns früher mit der Parallelklasse nachmittags am alten Sportplatz – einzig um uns zu prügeln. Nach den ungeschriebenen Regeln: nicht boxen, nicht treten, wer auf den Schultern lag, hatte verloren. Diesen Drang, sich zu messen, sollten wir nicht verbieten, sondern fördern, z.B. im Sportunterricht. Und bei aller richtigen Forderung, sich einzumischen – wir sollten auch lernen, wegzusehen. Dabei meine ich Situationen wie zwischen Mirko und Anna oder Max und Dirk (nicht Michael!!). Im Laufe der Zeit kann man ein Gespür dafür entwickeln, wann man eingreifen muss und wann man das Geschehen aus einigem Abstand einfach weiter betrachtet.

... bei Gewalt eingreifen

Im Beispiel Michael und Aydin geht es jedoch um "echte" Gewalt. Da sollten, müssen wir uns einmischen. Das ist leicht gesagt – doch viele Lehrerinnen und Lehrer haben verständlicherweise Angst, selbst Opfer zu werden. Deshalb kommt es so sehr auf die innere Einstellung an: Bin ich ernsthaft von meinem Eingreifen überzeugt, so strahle ich diese Sicherheit und Entschlossenheit auch aus. Sollte ich mich jedoch unsicher fühlen, so wäre jedes Eingreifen fatal. Da ist es alle Male besser (und auch nicht ehrrührig!), wenn ich mir Hilfe hole.

Vielleicht ist die Angst aber auch nur ein Vorwand für das Raushalten, weil eine Einmischung Unannehmlichkeiten (Gespräche mit Rektor/in, Eltern o.ä. – also Mehrarbeit) bedeuten könnte. Aber wenn Lehrkräfte bei Gewalt wegsehen, ist das unerträglich – auch und gerade für Kinder und Jugendliche. Wenn sie davon zu Hause berichten, sollten sich auch Eltern nicht scheuen, das in der Schule zu thematisieren.

Konfliktlotsen sind oft überfordert

Heute ist es vielfach modern, "Schülerkonfliktlotsen" an Schulen auszubilden, auch um zu einem Täter-Opfer-Ausgleich zu kommen. In einigen Fällen mag das gelingen (z.B. Turgay/ Ugur), anderes Eingreifen erscheint mir aufgesetzt (z.B. Mirko/Anna) – im Fall Aydin/Miachel wäre das Eingreifen der Lotsen fatal. Denn bei einer echten Gewalttat, ich habe das schon beschrieben, kann zunächst kein Ausgleich zwischen Opfer und Täter geschaffen werden.

Schulen wollen und sollen Gewalt nicht hinnehmen, das Problem darf jedoch nicht auf die Schülerinnen und Schüler abgewälzt werden. Vielmehr braucht die Schule Lehrer/innen, die alles können: wegschauen, hinsehen und eingreifen. Dafür müssen sie sich weiter qualifizieren, an ihrem Selbstverständnis arbeiten und sich selbst mit ihren Gefühlen, Ängsten und Grenzen wahrnehmen. Das gilt insbesondere für männliche Lehrkräfte, die an Schulen immer noch zu wenig vertreten sind. Aber gerade sie sind als Identifikationspersonen wichtig.

(aus: Starke Eltern - Starke Kinder 2001)

Hans-Jürgen Riefkogel ist Maschinenschlosser und Grund- und Hauptschullehrer. Er arbeitet an der Werk-Statt-Schule Hannover und gibt Kurse für Männer zur Gewaltprävention

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