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Aglaja Beyes-Corleis: Ein Junge weint doch nicht!

Die Sachlage scheint klar: wer jemand anderem Gewalt antut, übt individuell Gewalt aus, ist also ein "Täter". Doch Täter werden nicht als solche geboren, sondern sie wachsen vielfach unter Bedingungen auf (und in sie hinein), die sie unter Umständen erst zum Täter werden lassen. Individuelle Gewalt gedeiht also meistens auf dem Boden struktureller Gewalt und geschieht daher nicht zufällig. Und genau hier setzt Prävention an.

In der Medizin versteht man darunter die Ausschaltung schädlicher Faktoren (Primäre Prävention) oder die möglichst frühzeitige Behandlung einer Erkrankung (Sekundäre Prävention). Im Strafrecht heißt Prävention Vorbeugung gegen künftige Delikte. Strafe soll potenzielle Täter abschrecken (General-Prävention) oder die Gesellschaft vor einem bestimmten Täter schützen (Spezial-Prävention).

In der Erziehung kann Prävention bedeuten, voraussehbare Gefahren vom Kind fernzuhalten, es auf mögliche Bedrohungen vorzubereiten und seine Abwehrkräfte zu stärken; aber auch durch Belehrung oder Verbote darauf hinzuwirken, dass das Kind nicht später seinerseits gefährlich wird und etwa in die Kriminalität abrutscht. Insgesamt soll pädagogische Prävention dafür sorgen, dass das Kind weder selbst Schaden nimmt noch die Gesellschaft schädigt. Etwa mit diesen Worten beschreibt der Pädagoge Prof. Heinrich Kupffer das Spannungsfeld, in dem sich Prävention bewegt.

Am Beispiel ausländischer Jugendlicher will ich hier zeigen, auf welchem Boden Gewalt entstehen kann und was die Prävention in der Lage ist zu leisten. "Die Zunahme der Jugendgewalt steht in engem Zusammenhang damit, dass unsere Gesellschaft immer mehr zu einer Winner-Loser-Kultur wird. Vor allem junge Migranten geraten dabei ins soziale Abseits". Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Danach gilt für alle europäischen Länder: Vor allem Jugendliche mit niedriger Schulbildung, deren gesellschaftliche Position von relativer Armut, Ausgrenzung und schlechten Integrationsperspektiven gekennzeichnet ist, greifen ihrerseits zur Gewalt. Der allgemeine Trend wurde auch für Niedersachsen bestätigt. Hier sind drei Viertel aller Angeklagten Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau.

In diesem Zusammenhang steht auch Polizeiberichten zufolge die zunehmende Gewaltbereitschaft von Jugendlichen, wobei der Anstieg von Gewalttaten ausländischer Jugendlicher auffällt. Doch das KFN mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation, denn Straftaten werden sehr selektiv angezeigt. Dennoch bleibt: Eine besondere Problemgruppe sind solche jungen Zuwanderer, die seit längerem in Deutschland unter Bedingungen sozialer Benachteiligung aufwachsen.

Wie stark Kinder aus Migrantenfamilien z.B. in deutschen Schulen benachteiligt sind, brachte die PISA-Studie auf alarmierende Weise zutage: Nirgends ist der Einfluss des sozialen Milieus auf die Schulleistungen so groß wie in Deutschland. Jeder fünfte ausländische Jugendliche verlässt die Schule ohne einen Abschluss in der Tasche. Ohne einen guten Schulabschluss gibt es aber kaum eine Chance auf einen guten Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Wer darüber hinaus schon bei seinen Eltern Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit erfahren hat, fühlt sich leicht ungerecht behandelt. Da ist die Versuchung groß, sich das mit Gewalt zu nehmen, was die Gesellschaft einem nicht zugesteht.

"Wenn Gewaltprävention an den Ursachen ansetzen will, muss sie den Missstand abbauen, dass Kinder in arme Elternhäuser hineingeboren werden", betont dann auch Professor Andreas Böttger vom sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut ARPOS in Hannover gegenüber Betrifft. Leichter gesagt, als getan, denn viele Jugendliche ernten in ihrer Peergruppe erst durch Gewalt und Kriminalität Anerkennung, so ist von den Mitarbeitern eines Jugendzentrums im ländlichen Bereich zu hören. Da hat sich z.B. einer der Jungen gebrüstet: "Ich habe ein Moped geklaut. Aber mein Prozess ist erst in zwei Jahren." Hier müsse die Justiz viel schneller handeln, sagen die Sozialarbeiter.

Entschlossenes Eingreifen, wenn Jugendliche bereits gewalttätig geworden sind, fordert auch Andreas Böttger. Die Grenzen der Prävention sieht er da, wo diese mit ihren pädagogischen Programmen in jede Nische der Jugendkultur und Freizeit eingreifen will. Der Versuch, eine ganze Generation zu kontrollieren, ist seiner Meinung nach jedoch Machtmissbrauch.

Es wäre allerdings eine grobe Vereinfachung, die Probleme allein staatlicher Vernachlässigung zuzuschreiben. "Es gibt auch ein neutrales Problem", sagt ein türkischer Sozialarbeiter mit Blick auf seine Landsleute. Und dann erläutert er ein türkisches Sprichwort, das man traditionell bei der Einschulung hörte, wenn der Vater zum Lehrer sagte: "Das Fleisch gehört dir, der Knochen mir." Damit gibt der Vater dem Lehrer das Recht zuzuschlagen, wenn der Sohn nicht spurt. Diese Züchtigung definiert das Sprichwort sehr präzise: Der Lehrer darf das Kind zwar schlagen, ihm aber nicht die Knochen brechen. Die gehören nämlich dem Vater. Auch bei türkischen Familien in Deutschland sei diese Gewalterfahrung noch weit verbreitet, so mein Gesprächspartner, "auch wenn es langsam besser wird". Kinder erzählen ihm regelmäßig im Jugendzentrum, wie ihr Vater die Mutter schlage. "Da ist es dann gar nicht mehr nötig, dass der Vater seinem Sohn sagt: "Hau drauf, wenn's nicht anders geht." Die Kinder erleben es als "Normalfall", dass Männer mit Gewalt durch das Leben kommen."

Genau hier setzt die geschlechtsspezifische Präventionsarbeit mit Jungen an. Über Gewalt, Angst und Männlichkeitsbilder wird geredet. Wichtiger aber als alles Reden sind Erlebnisse, die Kinder auch emotional ansprechen und überzeugen. An die Stelle des erlebten Verhaltens in Familie und Cli-que muss die eigene Erfahrung eines neuen, anderen Verhaltens treten. So sehen es die Mitarbeiter in der Jungenarbeit als großen Erfolg an, wenn ein Junge sich traut, zu weinen und zu sei-ner Angst zu stehen. Jungen haben eine Riesenlast zu tragen. "Ein Junge weint nicht" ist ein Denkschema, das noch tief in den Köpfen verankert ist - in den Köpfen von Migranten und Deutschen übrigens gleichermaßen. Wenn sich ein Junge aber Angst eingesteht, hat er größere Chancen, auch selbstbewusst zu werden. Er kennt seine Gefühle, kann mit ihnen umgehen.

Wie wichtig Prävention ist, zeigt die Wechselwirkung zwischen erlebter häuslicher Gewalt und eigener Gewaltbereitschaft. Jugendliche, die in ihrer Kindheit oder als Jugendliche von den Eltern massiv geschlagen oder misshandelt wurden, werden erheblich häufiger selbst gewalttätig, als nicht geschlagene junge Menschen. Nach einer Studie aus dem Jahr 1997 wurde bei den türkischen Jugendlichen fast jeder fünfte Opfer einer elterlichen physischen Misshandlung. Hohe Opferraten fand man auch bei Jugendlichen aus Jugoslawien und Osteuropa.

Die polizeiliche Kriminalstatistik belegt ebenfalls: Jugendgewalt ist männlich. 90 Prozent der Tatverdächtigen sind männlichen Geschlecht. Andrea Buskotte von der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen warnt aber, daraus falsche Schlüsse zu ziehen. Mädchen dominieren nämlich bei der psychischen Gewalt. Sie sind in ihrer Aggressivität häufig subtiler, heimtückischer. Auch wird beobachtet, dass Mädchen in Jugendcliquen ihre Aggressionen durch die "ideelle Unterstützung" des männlichen Geschlechts ausleben – oder Gewalttaten gar delegieren. "Gewaltprävention ist ein Thema für die Mädchen - und Jungenarbeit", folgert Buskotte.

Aglaja Beyes-Corleis, freie Journalistin (Schwerpunkt Migration), Wiesbaden

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