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Manfred Bönsch: Da ist immer noch ein Problem

Die bisherigen Konzepte für mehr Bildungschancen ausländischer Kinder haben nicht gegriffen. Was sind die Gründe und was gilt es zu tun?

Über eine Million ausländische Schülerinnen und Schüler besuchen bundesdeutsche allgemeinbildende Schulen. In Niedersachsen beträgt ihr Anteil nach der letzten Schulstatistik des MK in der Grundschule 8,2 %, in den Sonderschulen für Lernbehinderte (Schulen für Lernhilfe) 21,2 %, in der Hauptschule 11,9 %, in der Realschule 4,9 % und am Gymnasium 2,8 %. Ohne Abschluss verlassen 22,9 % der ausländischen Schüler/-innen die Schule, 2,5 % machen das Abitur. Geht man vom Anteil der ausländischen Schülerinnen und Schüler in der Grundschule aus – und der gilt als Orientierungswert –, zeigen sich "Verzerrungen", die auf folgendes Problem aufmerksam machen: ausländische Schülerinnen und Schüler haben offensichtlich immer noch nicht die gleichen (Bildungs)Chancen wie deutsche.

Akzeptiert ist sicher schnell die Annahme, dass mangelnde Intelligenz- und Begabungsressourcen nicht die Ursache sein können. Das Problem verschärft sich auch dadurch, dass wir es häufig schon mit der sog. zweiten oder dritten Generation zu tun haben. Bisher hatte man immer angenommen, ihre Chancenbenachteiligung würde sich reduzieren. Die Frage ist also: Wie kann dieses Phänomen erklärt werden und wie müsste man darauf reagieren? Die Lage der Aussiedlerkinder ist übrigens ähnlich, ihre Schulbiographien werden aber so gut wie gar nicht erfasst.

Bikulturelle Probleme

Für jeden Heranwachsenden sind die zentralen Prozesse der Sozialisation und Identitätsentwicklung eine produktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Ausländische Kinder und Jugendliche müssen dabei zwei Kulturen verarbeiten, die sich nicht selten in wesentlichen Fragen (Werte und Normen, Alltagskultur, religiöse Bindungen) unterscheiden. Zwischen dem Rückzug in die eigene Ethnie und der damit verbundenen Ablehnung der Kultur bei gleichzeitiger Verdrängung der Herkunftskultur und -sprache ist ein schwieriger Weg zu finden, den die Eltern nicht immer intensiv unterstützen (können). Der Weg zu einer bikulturellen Identität ist auch deshalb so schwierig, weil ihn die deutsche Schule ebenfalls wenig unterstützt. Sie verlangt die Orientierung an deutscher Kultur und Sprache. Das Leben in zwei Kulturen kann Bereicherung sein, ist aber zunächst einmal eine große Herausforderung. In der Diskussion sind wir wohl von einer früheren Ausländerpädagogik zu einer Interkulturellen Pädagogik fortgeschritten. In der Realität aber müssen vor allem die ausländischen Schüler/-innen allein bikulturelle Identität entwickeln. Und da immer neue Nationalitäten migrieren, ist auch der Verweis auf die zweite und dritte Generation häufig nicht sehr hilfreich. Denn den Erstimmigranten (Italiener, Spanier, Griechen, später Türken) sind bis heute Menschen aus den Balkanländern, aus Asien und Afrika gefolgt.

Die Bedeutung der Muttersprache ...

Die Muttersprache hat eine Reihe unverzichtbarer Funktionen: sie bedingt die Entwicklung der Basispersönlichkeit eines Kindes, in ihr erfolgt das Benennen und die Versprachlichung des unmittelbaren Wahrnehmungsfeldes sowie die Orientierung in demselben, sie ermöglicht dem Kind die Aufnahme und Mitteilung wichtiger Erfahrungen, sie gilt als Träger gesellschaftlichen Wissens und sie ist familien- und gruppeninternes Kommunikationsmittel, um soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, wichtige Geschichten zu überliefern und sich über Wertvorstellungen und Ideensystemen auszutauschen. Selbstbild und Integration hängen also wesentlich von ihr ab.

... und das nötige Zwei-Sprachen-Lernen

Zwar wird das Aufwachsen in Zweisprachigkeit heute gern positiv beschrieben, aber die deutsche Schule (zunächst einmal die Grundschule) fördert die Muttersprache nicht und verlangt dazu noch alle relevanten Leistungen in der Zweitsprache. Kinder nehmen schon sehr früh wahr, welches Prestige ihrer Muttersprache gegeben wird. Hat sie keine öffentliche Bedeutung, kommt es schnell zu Distanzempfindungen, die gesellschaftlich-politisch-sozialpsychologische Bedeutung haben (z.B. sehr konkret für außerschulische Kontakte). Die Frage ist dann, ob die Zweitsprache eine integrative oder nur eine instrumentelle Motivation entfalten kann.

Einleitend war von dem nicht-chancengerechten Schulerfolg ausländischer Schüler/-innen die Rede. Die Ursachen des ‘Schulversagens’ sind sicher unterschiedlich und vielschichtig (schlechte Wohnverhältnisse, materielle Englagen, Bildungsdistanz (Koranschulen)). Die zentrale Frage, die hier jedoch gestellt werden muss, lautet: Kann die Institution ‘Schule’ auf Dauer monokulturell und monolingual arbeiten, wenn sie von Schülerinnen und Schüler besucht wird, die aus verschiedenen Kulturkreisen kommen und verschiedene Sprachen sprechen? Die forcierte monolinguale Einstellung der Schule verhindert eine ungestörte individuelle Zweisprachigkeit und vor allem die notwendige Akzeptanz der Muttersprache – ganz abgesehen davon, dass von ausländischen Schülerinnen und Schülern unbesehen eine Lernkapazität verlangt wird, die immer deutlich über der der deutschen Kinder liegen muss, wenn sich der herkömmliche (deutsche) Schulerfolg einstellen soll. Dies potenziert sich übrigens spätestens dann, wenn eine zweite oder gar dritte Fremdsprache hinzukommt.

Schulische und unterrichtliche Konsequenzen

Man könnte auf diese Sachverhalte mit achselzuckender Deutschtümelei reagieren, nach dem Motto: Wer nach Deutschland kommt, muss sich eben den Bedingungen hier unterwerfen. Dies ist der Preis für die Chance, hier leben zu können. Diese Position scheint so selten gar nicht zu sein! Wenn man jedoch von grundgesetzlichen Positionen her denkt, kann und darf dies nicht die Antwort sein. Aber welche Chancen hat die Schule dann? Wer sich an die Realitäten erinnert, wird angesichts der oben in aller Kürze beschriebenen Probleme erkennen, dass unsere Konzepte des Förderns mittels Förderunterricht nicht ausreichen. Sie basieren allemal auf einer Asymmetrie der Anforderungen! Die Suche nach größerer Chancengerechtigkeit wird weiter greifen müssen. Eine mittlere Linie läge auf der sog. integrativen Förderung. Dies bedeutet: der Erstsprachenunterricht wird so in den Regelstundenplan eingebunden, dass alle für wichtig erachteten Inhalte auch in einem integrierten Erstprachenunterricht (Doppelbesetzung) vermittelt werden müssten. Damit würde eine Marginalisierung der Muttersprache vermieden werden. Solch ein integrierter Muttersprachunterricht dürfte sich nicht nur als Sprachunterricht verstehen, sondern er müsste sozio-kulturelle Themen (Erfahrungsfelder wie Familie, Schule, Alltag, Freizeit, Feiertage/Feste, Religion) aufnehmen. Die weitergehende Suche nach einem symmetrischen Anforderungsprofil würde zu einem konsequent bikulturellen und bilingualen Unterricht führen, der dann auch für die deutschen Schüler/-innen Konsequenzen hätte: gewissermaßen symmetrische Anforderungsprofile für beide Seiten in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht, mindestens auf einem einfachen Niveau. Solange dieses Utopie bleibt oder sogar grundsätzlich in Frage gestellt wird, wird Chancengerechtigkeit wegen von Anfang an bestehender Asymmetrie der Bedeutungs- und Sprachpotentiale keine Chance haben. Das zeigt die bisherige Diskussion des Problems deutlich. Konsequenzen daraus sind jedoch im Moment nicht in Sicht und das muss uns unruhig machen!

Prof. Dr. Manfred Bönsch, Universität Hannover, Fachbereich Erziehungswissenschaften

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