- Editorial 2/1999
- Hiltrud Stöcker-Zafari: Politik mit dem Neid
- Swaantje Düsenberg: Alle Kinder sind gleich
- Leonie Herwartz-Emden: "Sie sollen es besser haben"
- Ursula Boos-Nünning: "Zukunft im Blick"
- Manfred Bönsch: Da ist immer noch ein Problem
- Harry Hubert: Lebenswelt im Zentrum
- Kolumne - Verletzte Seelen
- Arzu Altug: "Ich mag Herausforderungen"
- Monika Ruprecht: Konkreter Impuls - Ein Projekt für jede Frau und jeden Mann
- Impressum Ausgabe 2/1999
Harry Hubert: Lebenswelt im Zentrum
Wie müssen Staat und Gesellschaft handeln, damit auch ausländischen Kindern und Jugendlichen mit ihren Familien ein gesundes und zukunftsorientiertes Leben möglich ist?
Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Jugendhilfe soll zur Verwirklichung dieses Rechts junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. Jugendhilfe soll Eltern in Erziehungsfragen beraten und in der Erziehung unterstützen. Jugendhilfe soll Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen. Jugendhilfe soll für positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien und für eine kinder- und familienfreundliche Umwelt sorgen. Es sollte selbstverständlich sein, dass diese Form der Jugendhilfe deutsche Kinder und Kinder ohne deutsche Staatsbürgerschaft sowie alle Familien in gleicher Weise anspricht.
Die EMRK
Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gebietet in Art. 8 die Achtung der privaten Sphäre. Danach hat jeder Mensch einen Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur dann erlaubt, wenn dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Die europäische Menschenrechtskonvention verbietet Diskriminierungen jeder Art. Nach Art. 14 der EMRK müssen die in dieser Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden.
Das Haager Übereinkommen
Das Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen regelt die internationalen Zuständigkeiten zur Wahrung des Kindeswohls. Nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen sind die Gerichte und Verwaltungsbehörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür zuständig, nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahmen zum Schutze von Minderjährigen zu treffen (Art. 1, 2 MSA), soweit er ernstlich gefährdet ist.
Das Grundgesetz
Nach Art. 3 unseres Grundgesetzes sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und nach Art. 6 stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines entsprechenden Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. So können beim Vorliegen der Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohles eines Kindes gerichtliche Maßnahmen auch gegen den Willen der Eltern getroffen werden (§ 1666 BGB) bis hin zum völligen Entzug der Personensorge (§ 1666a BGB).
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz
Das alte Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) hatte als Adressaten der Förderung der Entwicklung und der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit lediglich "jedes deutsche Kind" vor Augen. Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) hingegen spricht in seinerPräambel "jeden jungen Menschen" an und suggeriert insofern dieGroßzügigkeit eines demokratischen Regeln verpflichteten sozialen Rechtsstaates, der nicht nur die allgemeinen Menschenrechte zu schützen weiß, sondern auch den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz anerkennt und verfassungsrechtlich verankert.
Gleichwohl kann von einer Gleichbehandlung aller jungen Menschen doch nicht die Rede sein. Bedürftige junge Menschen ausländischer Herkunft bzw. deren Personensorgeberechtigte können nämlich Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nur dann in Anspruch nehmen, wenn sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Der Personenkreis der Anspruchberechtigten auf Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und angemessener Erziehung wurde noch während des Gesetzgebungsverfahrens aufgrund der Intervention der Vertreter der kommunalen Gebietskörperschaften (den kommunalen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe) aus fiskalischen Überlegungen heraus entsprechend relativiert (§ 6 Abs. 2 KJHG).
Die Angst vor Ausweisung
Aber selbst die rechtmäßige Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe kann einen Ausweisungstatbestand begründen. So werden in § 46 Ziff. 7 AuslG die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder von Hilfen für junge Volljährige nach dem KJHG aufgrund polizei- und ordnungsrechtlicher Erwägungen ausdrücklich als Ausweisungsgründe genannt. § 76 Abs. 5 Nr. 4 AuslG verpflichtet sogar Sozial- und Jugendämter, der für den jeweiligen Wohnort zuständigen Ausländerbehörde von sich aus Erkenntnisse zu übermitteln, wenn sie der Ansicht sind, dass in dem einen oder anderen Fall Ausweisungsgründe vorliegen. Begründete oder unbegründete Furcht vor zusätzlichen hier ausländerrechtlichen Repressalien dürfte viele Betroffene dann auch eher davon abhalten, geeignete Leistungen nach dem KJHG zu beanspruchen, auch und gerade dann, wenn sich diese als besonders notwendig erweisen. Man erinnere sich hier nur an den Münchner Fall Mehmet.
Das Phänomen Arbeitslosigkeit
Erstrebtes Ziel einer modernen staatlichen Sozialpolitik ist sicherlich die Herstellung generationenübergreifender Zufriedenheit und gesellschaftlicher Harmonie. Die Zwei-Drittel-Gesellschaft, in der wir heute leben, ist jedoch geprägt durch Ausgrenzung und Fremdbestimmung. Soziale Rand- und Mangellagen werden vorgegeben. Dies geschieht beispielsweise durch die Globalisierung der Wirtschaftsordnung, die u.a. zu einem eklatanten Abbau von Arbeitsplätzen führt. Trotz ausgeklügelter Sozialpläne im unternehmerischen Einzelfall bleibt das bedrohliche Phänomen des flächendeckenden Abbaus von Arbeitsplätzen. Dies erzeugt eine immer mehr um sich greifende Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung, es entstehen Zukunftsängste. Die Frage, wieviele junge Menschen noch dauerhaft in die Arbeitswelt integriert werden können, kann von niemandem mehr glaubhaft beantwortet werden. Dies fördert Politikverdrossenheit. Viele Menschen sind der Ansicht, die propagierte Politik gegen Armut entarte zusehends zu einer Politik gegen Arme. Gefordert wird ein grundlegend neues Kulturverständnis im Umgang und in der Zusammenarbeit mit der Jugend. Die heutige Winner-Loser-Gesellschaft erschwert mit ihren offensiv eingesetzten Ellenbogen die gerade für junge Menschen so wichtige soziale Anerkennung mit damit einhergehender Steigerung des Selbstwertgefühls.
Integration und Prävention
Integration und Prävention kann nicht gelingen, wenn sie sich in noch so ausdifferenzierten Sicherheitskonzepten polizei- und ordnungsrechtlicher Art, vehementen ausländerpolitischen Zuzugsbekämpfungsstrategien, einem immer wieder lauten Ruf nach Verschärfungen des Ausweisungs- und Abschiebungsrechts, den kleinkrämerhaften Wirtschaftlichkeitserwägungen zur Abwendung einer imaginären Bedrohung der Belange der Bundesrepublik sowie in einer schon notorischen Leugnung unserer multikulturell geprägten Einwanderungsgesellschaft verliert. Die Perspektivlosigkeit, Orientierungslosigkeit und die von jungen Menschen in Selbsteinschätzung empfundene Nutzlosigkeit hat natürlich etwas mit der sozialen Lage der Jugend in unserer heutigen Gesellschaft zu tun. Die heutige Jugend ist nicht schlimmer geworden, als frühere Generationen es auch schon waren – aber arbeitsloser. Die heutige Jugend ist nicht auffälliger geworden – aber ärmer, obdachloser und chancenloser. Soziale Problemlagen lassen sich erfolgreich vernünftigerweise nur mit sozialen Mitteln lösen. Auch wegen dieser Befunde hat im Hinblick auf die medienwirksam inszenierte aktuelle Debatte um eine angeblich wieder einmal bedrohlich ansteigende Kinder- und Jugendkriminalität der 24. Deutsche Jugendgerichtstag 1998 in Hamburg die Entdramatisierung dieser Frage und zugleich auch die Entdämonisierung der Diskussion um die Jugendgewalt gefordert.
Jugendhilfe muss sich an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen orientieren und sie muss zur Kenntnis nehmen, dass es keine einheitliche Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gibt. Dies gilt insbesondere für ausländische Kinder und Jugendliche. Ihre Lebenslage unterscheidet sich deutlich von der deutscher Gleichaltriger. Jugendhilfe hat nicht die Möglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse von Grund auf zu ändern, sie hat aber durchaus die Möglichkeit, Perspektiven für die Entwicklung von anderen, besseren Lebensentwürfen zu eröffnen und somit zum Abbau von Benachteiligung und Chancenungleichheit beizutragen.
Konsequenzen für die Jugendhilfe
Gerade der sich ständig in Bewegung befindliche gesellschaftliche Entwicklungsprozess bedarf der Planungssicherheit. Hierzu hat der Gesetzgeber in Ergänzung zur allgemeinen Sozialplanung in das neue KJHG die Pflicht zur Jugendhilfeplanung eingebaut. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben im Rahmen ihrer Planungsverantwortung den Bedarf unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und deren Personensorgeberechtigten für einen mittelfristigen Zeitraum zu ermitteln und die zur Befriedigung des u.U. auch unvorhergesehenen Bedarfs notwendigen Vorhaben rechtzeitig und ausreichend zu planen. Dabei sollen Einrichtungen und Dienste so geplant werden, dass Kontakte in der Familie und im sozialen Umfeld erhalten und gepflegt werden können und junge Menschen und Familien in gefährdeten Lebens- und Wohnbereichen besonders gefördert werden. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen darauf hinwirken, dass die Jugendhilfeplanung und andere örtliche und überörtliche Planungen aufeinander abgestimmt werden und Planungen insgesamt den Bedürfnissen und Interessen junger Menschen und ihrer Familien Rechnung tragen (§ 80 KJHG).
Konsequenzen für den Staat ...
Die Bundesregierung ist verpflichtet, dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen Bericht über die Lage der jungen Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe vorzulegen (§ 84 KJHG). Der 10. Jugendbericht befasst sich mit der Lebenssituation von Kindern und den Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland (BT-Drucksache 13/11368). Die dort vorgenommene Analyse wurde durch entsprechende Empfehlungen ergänzt, die es nun konsequent umzusetzen gilt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen hierfür sind durchaus vorhanden – warum nutzen wir sie nicht?
... und die Gesellschaft
Erforderlich ist bei alledem ein grundlegender Perspektivenwechsel in der Einstellung zur Jugend. Gefragt ist eine Kultur der Partnerschaft und des Dialoges im Umgang mit der Jugend (z.B. durch die Gründung von Kinderparlamenten, einem Ausbau der Jugendforen, einer deutlichen Erweiterung des internationalen Jugendaustausches). Gefragt ist ein neues Selbstverständnis von jugendlicher Partizipation an gesellschaftlicher Entwicklung und politischem Leben – glaubwürdig, alltagsnah, konsequent und vor allem transkulturell und international.
Harry Hubert, Dipl.Päd., Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt a.M., Abteilung Grundsätzliche Angelegenheiten der Jugendhilfe