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Uwe Hunger: Zwischen Kür und Pflicht

Die aktuelle Interessenlage in der Einwanderungsdiskussion


Die aktuelle Debatte über die Einführung einer "Green Card" zur Anwerbung von ausländischen Computerspezialisten hat der deutschen Einwanderungsdiskussion eine neue Wendung gegeben. Zum ersten Mal in der Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland steht die Notwendigkeit zusätzlicher Einwanderung quer durch alle Parteien außer Frage.

Der Grund für diesen fundamentalen Umschwung in der Einwanderungsdiskussion – nachdem die Einwanderungsrealität jahrelang negiert wurde – liegt in dem immer deutlicher werdenden demografischen Schrumpfungsprozess, in dem sich Deutschland wie fast alle anderen europäischen Länder befindet. In der politischen Diskussion hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass sich die Bevölkerung in Deutschland ohne zusätzliche Einwanderung innerhalb der nächsten dreißig Jahre um zehn bis zwanzig Prozent verkleinern wird. Das hätte gravierende Konsequenzen für die Wirtschaft, das Sozialsystem und die Gesellschaft insgesamt. Dass die Zuwanderung das demografische Problem nicht lösen, sondern höchstens abmildern wird, ist allerdings weniger laut im Gespräch.

Die Wirtschaft

Die deutsche Wirtschaft hat die Notwendigkeit zusätzlicher Einwanderung erkannt und das Thema auf die politische Agenda gesetzt. Seit der Ankündigung von Bundeskanzler Schröder auf der Computermesse CeBIT im Jahr 2000, den nach wie vor gültigen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte von außerhalb der EU für den IT-Sektor zu lockern, drängen Wirtschaftsverbände darauf, die Regelung der "Green Card" auf andere Wirtschaftssektoren zu erweitern und die Zuwanderung von Arbeitskräften generell zu liberalisieren. Dabei können Unternehmen durchaus unterschiedliche Interessen bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte verfolgen. Einerseits können ausländische Arbeitskräfte im Rahmen der Arbeitskräftepolitik der Unternehmen als Ergänzung und Erweiterung der bestehenden Arbeitnehmerschaft gesehen werden, um aktuelle und sich abzeichnende Engpässe schnell und effizient durch Zuwanderung zu überwinden. Andererseits kann es auch im Interesse der Unternehmen liegen, die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte dazu zu nutzen, die Arbeitskosten zu senken. In diesem Fall verhält sich die Ausländerbeschäftigung nicht komplementär zur inländischen Beschäftigung, sondern substitutiv.

Dies ist derzeit etwa in der Bauwirtschaft der Fall, wo ausländische Arbeitskräfte insbesondere in den 90er Jahren zu geringen Löhnen aus dem Ausland engagiert und gleichzeitig viele inländische Arbeitskräfte trotz des herrschenden Baubooms arbeitslos wurden, weil sie im internationalen Vergleich zu teuer waren. In diesem Fall kam es zu einem Wechsel in der Arbeitskräftepolitik der Unternehmen, die nicht mehr primär in die Qualifikation ihrer Beschäftigten und in die Nachwuchsausbildung investierten, sondern qualifizierte und gut bezahlte inländische Arbeitskräfte durch weniger qualifizierte, dafür aber weitaus billigere ausländische Arbeitskräfte ersetzten.

Die Gewerkschaften

Dies ist der Kernpunkt der Kritik der Gewerkschaften, die bei einer weiteren Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte vor einer Substitution von inländischen Arbeitskräften im Nachwuchsbereich oder bei älteren Arbeitskräften warnen. Das Interesse der Gewerkschaften an Einwanderung steht und fällt mit der Frage, in wieweit ihre Organisations- und Handlungskraft durch die Zuwanderung beeinflusst werden. Befürchten sie die Zunahme von Arbeitslosigkeit oder Deregulierungstendenzen, wie derzeit etwa im Baubereich, so sprechen sie sich gegen eine liberale Einwanderungspolitik aus und befürworten protektionistische Maßnahmen für den Arbeitsmarkt. Soweit Zuwanderung jedoch keine substitutiven Effekte hat und sich komplementär zur inländischen Beschäftigung verhält, deckt sich das Interesse der Gewerkschaften weitgehend mit dem Interesse der Unternehmen.

Dies steht im Gegensatz zu anderen großen Einwanderungsländern wie den USA, wo Gewerkschaften oftmals eine einwanderungsfeindliche Position einnehmen, eben weil sie deregulierende Effekte der Einwanderung befürchten. In Deutschland haben die Gewerkschaften aber in der Vergangenheit selbst von Einwanderung profitiert, indem sie den überwiegenden Anteil der ausländischen ArbeitnehmerInnen in ihre Organisationsstruktur einbinden konnten. Heute gehören ausländische Arbeitnehmer zur Kernbelegschaft deutscher Industrieunternehmern und zur Kernmitgliedschaft der Gewerkschaften.

Das neue und verändernde Moment in der deutschen Einwanderungsdiskussion im Vergleich zur Gastarbeiteranwerbung in den 50er, 60er und 70er Jahren besteht vor allem darin, dass nicht mehr nur Arbeitskräfte für untere Arbeitsmarktsegmente gesucht werden, sondern vorrangig qualifizierte Arbeitskräfte für den Spitzenbereich der Arbeitsmarktpyramide. Dieser Wechsel im Anwerbeziel reflektiert die Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen, die nicht mehr – wie im industriellen Zeitalter – auf unqualifizierte Arbeitskräfte für die Massenfertigung abzielen, sondern auf sog. "Wissensarbeiter", die im Zeitalter der Wissensgesellschaft zum wichtigsten Standortfaktor avancieren können. Heute zeichnet sich bereits ein Wettbewerb der großen Industrienationen um diese geistigen und technischen Eliten ab. Gerade das Beispiel des Wirtschaftsbooms in den USA verdeutlicht, dass Einwanderung von technischen Eliten, hier vor allem aus Asien, dynamische Effekte für die Wirtschaft bereithält.

Die aufgezeigte Veränderung wird sich auch auf das gesellschaftliche Klima im Einwanderungsdiskurs auswirken. Während in den unteren Marktsegmenten weiterhin die Angst vor Zuwanderung umgeht, wird über die Einwanderung hochqualifizierter Kräfte vermehrt positiv berichtet und ihre Notwendigkeit grundsätzlich nicht länger in Frage gestellt wird. Dies lässt sich auch an der "Green Card"-Debatte ablesen, bei der sich zwischen den Parteien ein positiver Wettbewerb um die weitreichendsten Einwanderungsregelungen abgezeichnet hat. So folgte der "Green Card"-Intitiative der rot-grünen Bundesregierung eine "Blue Card"-Offensive der CSU-Regierung in Bayern, die jetzt sogar von einer "White Card" für wissenschaftliche Eliten noch überboten werden soll. Eine neue Tendenz, die weitreichende Folgen für die Positionierung der Parteien zu Migrationsfragen haben wird, besteht darin, dass die Wähler die Kompetenz in Einwanderungsfragen zunehmend als Maßstab für die Wirtschaftskompetenz wahrnehmen könnten. Für die Parteien bedeutet dies, dass sich ihre Interessen zum Thema Einwanderung zu verändern beginnen. Sie stehen unter dem Druck, sich stärker in Einwanderungsfragen profilieren zu müssen, nachdem sie dieses Thema zum Teil über Jahre vernachlässigt haben bzw. mit Anti-Einwanderungs- oder auch Anti-Einbürgerungskampagnen Wahlerfolge verbuchen konnten.

Auch in der Bevölkerung hat der positive Paradigmenwechsel pro Einwanderung begonnen, sich aber noch nicht vollzogen. Noch immer spricht sich die Mehrzahl der Deutschen gegen weitere Zuwanderung aus. Dies zeigt, wie schwierig die Notwendigkeit zur Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer bei einer Anzahl von vier Millionen registrierten inländischen Arbeitslosen zu vermitteln ist. Wie sich die Gesellschaft zur neuen Einwanderung stellen und verhalten wird, ist davon abhängig, ob die Zuwanderer als Konkurrenten um Arbeitsplätze betrachtet oder als für den wirtschaftlichen Fortschritt notwendig angesehen werden. Am deutlichsten ist der Einwanderungsbedarf heute nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern im Sozialversicherungssystem – und hier insbesondere im Rentenversicherungssystem – sichtbar. Angesichts eines zunehmenden Ungleichgewichts zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern setzt sich auch in der Bevölkerung Schritt für Schritt die Überzeugung durch, dass Einwanderung aus demografischen Gründen notwendig sein wird. Hierbei spielt auch eine große Rolle, dass der Sozialstaat in Deutschland ein wesentliches Moment unserer Verfassung darstellt. Einwanderung zur Erhaltung des Sozialstaats könnte demnach zur nationalen Aufgabe erhoben werden.

Im Gegensatz zu dem sich neu abzeichnenden Einwanderungskonsens in ökonomischen Fragen kristallisiert sich ein anderer Diskursstrang in bezug auf die Zuwanderung aus humanitären Gründen heraus. Humanitäre Zuwanderung gründet vor allem in der Geschichte Deutschlands. Nachdem viele Deutsche aus Nazi-Deutschland flüchten mussten und ihnen im Ausland Asyl gewährt wurde, sah und sieht sich die Bundesrepublik Deutschland bis heute in der Verpflichtung, für Flüchtlinge und Asylsuchende offen zu sein. Ein im Grundgesetz verankertes "generöses Asylrecht" wurde über Jahre als eine wesentliche Voraussetzung für die Wiederaufnahme Deutschlands als gleichberechtigtes Mitglied in die Völkergemeinschaft gesehen. Nach der ersten "Asylkrise" Anfang der 90er Jahre, die in einer Restringierung des deutschen Asylrechts resultierte, gibt es nun in der aktuellen Diskussion abermals Ansätze für eine Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im ,nationalen Interesse’. Einwanderer werden hierbei aus deutscher Sicht in zwei Gruppen aufgeteilt: in die, "die uns nützen", und die, "die uns ausnutzen".

Eine solche Unterscheidung würde den Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf ihre weltpolitische Rolle jedoch sicher nicht gerecht. Entsprechend zeichnet sich eine Linie ab, nicht das Grundrecht auf Asyl zu verändern, sondern statt dessen die Verfahrensregeln, insbesondere bei der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern, zu verschärfen. Die Entscheidung über die Gestaltung des Asylrechts wird jedoch in Zukunft mehr und mehr auf die europäische Ebene verlagert werden. Heute verstehen sich vor allem die Kirchen – als traditioneller Anwalt der Schwachen und Rechtlosen – und auch linke Parteien, deren Wurzeln sich aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus speisen, sowie einige NGO als uneingeschränkte Interessenvertreter dieser Zuwanderungsgruppe.

Dr. Uwe Hunger, z. Zt. Visiting Scholar an der University of California Los Angeles (UCLA)

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