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Ihsan Ataçan: Schwere Entscheidung

Das Teehaus, in dem er saß, war vor wenigen Jahren unter freiem Himmel errichtet worden. Ferhat erinnerte sich noch so genau daran, als wäre es – du lieber Himmel – erst gestern gewesen.
Er war damals nach dem Studium in unmittelbarer Nähe dieses Teehauses in seine Einzimmerwohnung gezogen, die er liebevoll "mein Serail" nannte. Sie war die beste Wohnung am Rande dieser Großstadt, die er rasch gefunden hatte und damals – als Berufsanfänger – noch bezahlen konnte. Eigentlich war sie keine Wohnung. Eher eine Hütte mit Wasser -und Stromanschluss. Wie die meisten Großstädte im asiatischen Teil der Erde wuchs auch diese Stadt – im Tempo der neuen postmodernen Zeit – rasend schnell. Alles ging für sie zu schnell. "Es ist schon eine verrückte Zeit", dachte Ferhat, "...hier das Tempo der Ochsenkarren, dort die Überschallgeschwindigkeit der Concorde!"

Als er seinerzeit in seine Hütte eingezogen war, arbeitete er den ganzen Tag an einem Projekt zu Hause. Die Welt draußen vor seiner Tür und die Welt der Kommunikationstechnik, an der er arbeitete, ließen sich – auch für einen Spitzenprogrammierer – nicht miteinander konfigurieren.

Irgendwie schien alles so zufällig und ohne jede Planung zu geschehen. Er hatte seinerzeit aus seiner Wohnung beobachtet, wie ein Backwarenverkäufer vor dem Lebensmittelladen aufzutauchen begann: er kam jeden Nachmittag und blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit dort. Später gesellte sich ein Maisverkäufer dazu. An der Ecke neben dem Obst- und Gemüsehändler begann ein Mann, Süßspeisen aus einer Glasvitrine zu verkaufen. Unmittelbar darauf ließen sich ein Schuhputzer, nach ihm ein ambulanter Saftverkäufer und ein Mann, der täglich unterschiedliche Waren verkaufte, dort nieder. Unter einem alten Schirm tauchte sogar ein Flickschuster auf.

In kurzer Zeit war der Platz gegenüber seiner Hütte zu einem blühenden Marktflecken geworden. Ein Straßenkehrer fegte dort pausenlos vom Morgen bis zum Abend. Eine Vielzahl fliegender Händler kam hinzu. Leute kamen und gingen, liefen durch, mehrten sich.

Ferhat hatte sich damals von diesen Beobachtungen stark inspirieren lassen: alles hat ein System, auch das Chaos und das scheinbar Zufällige ist ein Teil dieses Systems, Chaos. Er wusste nicht, ob dies der alleinige Grund war, dass sein Projekt damals als ein großer Erfolg gefeiert wurde. Er wusste aber, dass er sich in dieser fröhlichen Atmosphäre um seine Wohnung herum, sehr wohl fühlte und deshalb trotz seines inzwischen verhältnismäßig sehr guten Einkommens nicht umgezogen war.

Um so mehr macht ihm nun der Gedanke, ins Ausland zu ziehen und eventuell noch mehr Geld zu verdienen, große Kopfschmerzen.

Dass sein Freund Nedim bereits seit fünf Minuten an seinem Tisch sitzt, hat er – in Gedanken versunken – nicht einmal bemerkt. Nedim bewegt den knarrenden Holzstuhl, auf dem er sitzt, extra hin und her, um Ferhats Aufmerksamkeit zu erwecken. Doch das Quietschen und Knarren des Stuhls – so scheint es – geht im Stimmengewirr des Teehauses unter. Schließlich schreit Nedim Ferhat an: "Bist du etwa schon in Deutschland oder was?" Ferhat hört nur "Deutschland" und nimmt Nedim endlich wahr. "Deutschland!", wiederholt er. "...ach Mensch, Nedim, warum sagst du nicht einfach guten Abend oder Hallo?"

Ferhat kannte Nedim aus der Studienzeit. Er hatte das Studium aufgegeben, weil er gemeint hatte, auch ohne Abschluss problemlos über die Runden kommen zu können. Was auch stimmte – Nedim hatte einen besser bezahlten Job als Ferhat.

Nachdem die Neuigkeiten untereinander ausgetauscht sind, geht es um den eigentlichen Sinn des Treffens. "Hast du dich nun entschieden?", fragt Nedim. "Nein!", sagt Ferhat. "Ich hatte gehofft, dass du heute Abend sagen würdest..." Seine Blicke mustern Nedim erwartungsvoll. "Ich muss mich zwar wiederholen, lieber Ferhat, aber du irrst dich! Ich werde eine Reise ins Ausland nur dann überhaupt in Erwägung ziehen, wenn du den ersten Schritt..." Ferhat unterbricht ihn: "Möglicherweise aber werden wir keine zweite Gelegenheit wie diese bekommen. Die Bundesrepublik ermöglicht uns – im Gegensatz zu vielen anderen arbeitswilligen Menschen – eine unkomplizierte Einreise. Damit würden wir uns auch – möglicherweise – den Weg in die USA ebnen und..." Diesmal unterbricht Nedim: "Möglicherweise.., möglicherweise. Weißt du überhaupt, was du sagst? Angenommen... nur mal angenommen, wir hätten uns entschieden, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen. Was habe ich dort – außer das Arbeiten – noch zu erwarten? Du betrachtest das ganze viel zu oberflächlich. Ich denke, wir sollten dabei sehr sachlich vorgehen. Nicht mit "möglicherweise" und "vielleicht" oder "es könnte ja sein", sondern mit Fakten. Lass uns doch gleich mit Dingen befassen – auf der BIOS Ebene sozusagen – die für das Leben wichtig sind." Für einen Moment halten beide inne. "Willst du etwa das Land mit einem PC vergleichen?", fragt Ferhat. "Ja, was denn sonst? Deutschland braucht – und das ausschließlich – IT-Kräfte. Nicht Einwanderer. Im Gegenteil, die meisten Menschen dort wollen keine Zuwanderung. Erinnere dich doch an den Satz jenes Politikers – wie er auch immer geheißen hat – ‚Kinder statt Inder’ oder an die Tatsache, dass du zunächst nur für fünf Jahre bleiben sollst. Vieles spricht dafür, dass man dich nicht als Mensch, sondern eben als IT-Kraft will. Da muss ich mir – selbstverständlich – das ‚Bord’ anschauen. Was also kann ich mit diesem ‚Motherboard’ anfangen? Und wenn ich das tue, wird’s für mich problematisch. Die Marke ‚Deutschland’ ist nicht gerade die beste Marke, was den Umgang mit ‚Ausländern’ angeht. Was bietet dieses ‚Motherboard Deutschland’ noch, außer ein missgelauntes Wetter, gegenüber Fremden missgelaunte Menschen und Arbeitgeber, die dich zuallererst nach deinem ‚Schein’ fragen und nicht danach, was du kannst! Und nicht zuletzt eine Politik, die dir von Anfang an verdeutlicht, dass du nur vorübergehend gebrauchst wirst!?"

Nedim hatte erwartet, dass Ferhat an dieser Stelle sagen würde, dass er, Nedim, das alles nur deshalb so negativ bewerte, weil man ihn bei der deutschen Auslandsvertretung nach seinem Diplom gefragt hatte und ihm zu verstehen gab, dass man mit ausländischen Zeugnissen in Deutschland "so seine Probleme" hätte. Ferhat aber schweigt zunächst. Nach einer Weile bemerkt er dann: "Meinst du nicht, dass dieses Land auch viele positive Seiten hat – wie wirtschaftliche Stabilität und Reichtum, funktionierende Demokratie, ein ausgeprägtes Bewusstsein für Menschenrechte und Umwelt?" Nedim grinst spöttisch: "Und du glaubst, dass du dort von Null anfängst und in fünf Jahren ein reicher Mann mit einem dicken Mercedes bist...?! Und dann mit ein paar Ersatzteilen für unsere Demokratie hierher kommst und berichtest, wie westliche Demokratien funktionieren.., wie die Züge pünktlich ankommen und abfahren, wie sauber die Straßen und Landschaften sind usw.! Vorausgesetzt.., ja vorausgesetzt, du hast nicht in diesen fünf Jahren von einem ‚Glatzkopf’ eins auf die Birne bekommen oder bist womöglich dem ‚Rinderwahnsinn’ zum Opfer gefallen!"

Zwischenzeitlich ist das Teehaus bis zum letzten Stuhl voll besetzt. Es sind nur Männer dort, die sich laut unterhalten, Karten spielen oder sich bei den Gästen an Nachbartischen über Verdienstmöglichkeiten für den nächsten Tag informieren. Weder Nedim noch Ferhat haben die Sorgen der meisten Männer im Teehaus. Viele von diesen Männern müssen Familie und Kinder ernähren und sind zumeist die einzigen Verdiener in der Familie. Ihre Sorgen sieht man ihnen jedoch nicht an. Nedim ist auch verheiratet und hat zwei Kinder im Schulalter. Seine Frau verdient als freiberufliche Designerin ihr Taschengeld selbst. Sie überlässt Nedim die Entscheidung, ob er eine zeitlang nach Deutschland geht. Wenn überhaupt, dann würde sie erst später – und das auch nur ungern – mit den Kindern nachkommen wollen. Ferhats Freundin, die in einer anderen Großstadt wohnt, hat ihm zu verstehen gegeben, dass ihre Eltern ihr nicht erlauben würden, gegebenenfalls ins Ausland – mit Ausnahme der USA – zu gehen.

"Ich gebe ja zu!", sagt Ferhat, nachdem er tief Luft geholt hat, "...ich gebe zu, dass eine solche Entscheidung nicht so einfach getroffen werden kann. Es ist ja nicht so, dass man die Koffer packt und nach Deutschland fährt. Insbesondere dann, wenn du Kinder hast, einer Beschäftigung nachgehst und deine Freunde und Familie verlassen musst. Aber meinst du nicht, dass das Finanzielle dennoch einen hinreichenden Anreiz bietet, die Dinge etwas positiver zu betrachten? Dieses ‚Motherboard’, das du vorhin beschrieben hast, hat sicher auch bestimmte ‚Steckplätze’ für die IT-Kräfte, wie wir es sind. Möglicherweise bessere Arbeitsbedingungen zum Beispiel. Oder bessere technische Möglichkeiten für die Erweiterung unseres Wissens und..." "Du fängst schon wieder mit ‚möglicherweise’ an, Ferhat! Wie willst du – im Namen aller Götter – von hier aus feststellen, an was für einen Arbeitgeber du gerätst? Wird man dir die Freiheit bei der Arbeit lassen, die du hier hast? Wirst du, wenn du für ein paar Tage nicht weiterkommst, der Arbeit fern bleiben können, ohne dass man dir einen Vorwurf daraus macht? Ich weiß von anderen, dass die Deutschen in dieser Hinsicht keinen Spaß verstehen." Ferhat lacht laut, weil Nedim dabei richtig wütend geworden ist. "Ich hab’s!" sagt er dann, "...Spaß..! Das hast du in Deutschland. Eine wachsende Spaßgesellschaft und – überhaupt nicht zu verachten – auch viele schöne blonde Frauen, die ihren Spaß suchen. Dem kannst du aber jetzt nichts entgegnen!"

Nedim krault sich heftig in seinen Haaren, dann massiert er mit dem rechten Zeigefinger und dem Daumen seine Augenbrauen und sagt nachdenklich: "Wenn mein Bekannter in Deutschland nicht ein Spinner ist – und das ist er sicher nicht –, dann stimmt es zwar mit den blonden Frauen, doch diese Frauen haben – so mein Bekannter – heute mehr denn je Angst, mit einem dunkelhäutigen Mann, wie du es bist, auszugehen. Eines aber kannst du machen. Du kannst dort deinen Frust jederzeit runterspülen. Die Deutschen haben nicht nur tausende Sorten von Bier, sondern auch das eingehaltene ‚Reinheitsgebot’ dazu."

Sie verlassen – nach dem neunten Tee – das Teehaus und sind sich wenigstens über eines einig: die gleiche Anzahl an Bieren hätten sie bestimmt nicht verkraften können.

Ihsan Ataçan, Schriftsteller, Hamburg

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