Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung Niedersachsen klar Logo

Strukturell und atmosphärisch - Einwanderungshemmnisse in Deutschland

von Lale Akgün


Die Feststellung "Deutschland ist ein Einwanderungsland", ist inzwischen unumstritten. Unterschiede werden nur noch gemacht in der Frage, ob Deutschland ein klassisches Einwanderungsland ist oder ein "un"klassisches. Die Definition eines klassischen Einwanderungslandes ist allgemein bekannt. Was uns fehlt, ist die Definition des " Einwanderungslandes Deutschland".

Was für ein Einwanderungsland ist Deutschland? Im allgemeinen wird die Frage diskutiert, nach welchen Kriterien Deutschland seine Zuwanderer ins Land lässt bzw. lassen sollte. Ebenso spannend, wenn nicht sogar spannender wäre es, danach zu fragen, welche Maßstäbe Deutschland an sich legt, wenn es sich als Einwanderungsland definieren will.

Ich werde hier der Frage nachgehen, welche Hemmnisse sich Deutschland als Einwanderungsland in den Weg stellen.

Eine erste Unterteilung springt sofort ins Auge: die zwischen strukturellen und atmosphärischen Hemmnissen. Erwähnt werden sollte in dem Zusammenhang, dass die strukturellen Hemmnisse durch den gesetzlichen Rahmen entstehen, die atmosphärischen Hemmnisse vom gesellschaftlichen Diskurs getragen werden - und der wird wiederum seinerseits vom Alltagsdiskurs, von der Wissenschaft, von den Medien mit gespeist.

Hemmnis Nr.1: Die gesetzlichen Regelungen

"Im deutschen Irrgarten" überschreibt Heribert Prantl am 23. April 2001 einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung und stellt die Gretchenfrage: würden die Mitglieder der derzeit tagenden Einwanderungskommission den Test bestehen, wenn man sie nach den jeweiligen Voraussetzungen für Erlaubnis, Berechtigung, Bewilligung oder Befugnis zum Aufenthalt befragen würde?

Diese eher rhetorische Frage kann sich jeder Leser einfach beantworten – die Mitglieder der Einwanderungskommission würden sich im Dschungel des derzeitigen Ausländergesetzes wahrscheinlich nicht zurechtfinden können.

Einwanderung und Ausländergesetz sind zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen des Themas "Einlass und Aufenthalt von Nicht-Deutschen".

Die Botschaft, "Deutschland ist ein Einwanderungsland" impliziert einen Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung und muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass aus einem Land mit Ausländern ein Einwanderungsland geworden ist. Konsequenterweise folgt daraus:

  • Das Ausländerrecht muss als Abschottungsinstrument erkannt und verändert werden
    .

  • Es muss für die Zuwanderer rechtliche Transparenz, Klarheit und Überschaubarkeit hergestellt werden.

  • Es muss eine Perspektive geschaffen werden, langfristige Aufenthalte in Einbürgerungen einmünden zu lassen.

  • Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich öffnen.

  • Die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung muss gesetzlich unterbunden werden.

Hemmnis Nr. 2: Angst

In Deutschland geht eine Kollektivneurose um, die als "Verlustangst" definiert werden könnte. In Bezug auf die Zugewanderten bzw. Nichtdeutschen zeigt sie sich als Angst vor Kontrollverlust und Angst vor Verlust der eigenen Identität. Kurz gesagt: Angst vor Überfremdung.

Der Kontrollverlust zeigt sich typischerweise in Aussagen wie: "Einwanderung ja, aber...". Diesem "aber" folgen dann detaillierte Bedingungen, die Einwanderung rigide einschränken bzw. fast schon wieder unmöglich machen. Der Tatsache, dass gesellschaftliche Prozesse auch Eigendynamiken unterworfen sind und nicht immer gesteuert und kontrolliert werden können, wird nicht gern ins Auge gesehen – und wenn sie gesehen und erkannt wird, erzeugt sie bei vielen Menschen in allen gesellschaftlichen Schichten große Kontrollverlustangst.

Zuwanderung ja, aber nach Kriterien, die jede Bürgerin und jeder Bürger am liebsten selbst festlegen möchte. Die Kandidaten für die Einwanderung sollen gründlich unter die Lupe genommen werden, Eventualitäten bei der Einwanderung möglichst nicht existieren.

Das schränkt nicht nur Zielgruppen möglicher Einwanderer ein, es beschränkt auch die Dynamik der Integration.

Integration unterliegt in diesem Land dem Common sense. Jedermann fühlt sich bemüßigt, zu wissen, was Integration ist und wie Integration funktioniert. Die Komplexität dieses Vorganges, sich in gesellschaftliche Zusammenhänge einzufinden, wird vereinfacht und auf ein paar "Basics" heruntergebrochen. Auch Kriterien für Integrationserfolge sollen möglichst rechtzeitig programmiert werden. Nicht nur die Zuwanderung, auch die Integration will man kontrolliert und genauestens festgelegt wissen. Das ist jedoch weder mit der Psychologie des Menschen noch mit der gesellschaftlichen Eigendynamik vereinbar.

Die Angst vor Überfremdung ist wahrlich schwer zu verstehen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen "klassischer" Einwanderungsländer zeigen, welchen Sog die Mehrheitsgesellschaft entwickelt, wenn die strukturellen und gesellschaftlichen Bedingungen für Chancengleichheiten sorgen.

Durch das gebetsmühlenartige Wiederholen von Aussagen wie "Überfremdung durch Zugewanderte", "Parallelgesellschaften", "islamisches Frauenbild" werden Gespenster geschaffen, die aber durchaus den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen und für eine "Angstkultur" in diesem Land sorgen. Die Angstkultur wird zur Leitkultur - und es ist diese Angstkultur, die das Gefühl der Entfremdung bei den Einheimischen gegenüber den Zugewanderten erzeugt und nicht die Überfremdung durch die Zugewanderten.

Konsequenterweise folgt daraus: im Umgang mit der Debatte um Zuwanderung ist mehr gesellschaftliche Gelassenheit erforderlich.

Hemmnis Nr. 3: Unterstellungen

Es vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht mit der Aussage konfrontiert wird, dass die Ausländer sich nicht integrieren wollen. Moderater, aber nicht weniger schlimm klingen Aussagen wie: "Sie müssen aber Deutsch lernen" oder "Sie müssen sich unserem Grundgesetz und unseren Werten unterwerfen".

Dagegen ist für die allermeisten Zugewanderten keine Frage, dass, wie es Prof. Oberndorfer formuliert, "das Grundgesetz die Hausordnung der multikulturellen Gesellschaft Deutschland ist". Auch die Tatsache, dass das Erlernen der deutschen Sprache, als die franca lingua dieser Gesellschaft, wichtig ist, bestreiten die wenigsten. Wer vernünftig ist, wird dieser Tatsache ins Auge blicken. Und warum sollten die Zugewanderten unvernünftig sein?

Nun erleben wir aber tagtäglich folgendes Phänomen: es wird den Zugewanderten von vornherein implizit unterstellt, dass sie möglicherweise das deutsche Grundgesetz nicht achten werden, dass sie nicht Deutsch lernen wollen und dass einige sich auch nicht integrieren wollen.

Jeder, der sich zur Zeit zu Wort meldet (und im Moment melden sich viele zu Wort), stellt automatisch fest, wie wichtig es sei, dass Ausländer Deutsch lernen und sich den gesellschaftlichen Grundwerten unterwerfen. Wer hält dagegen? Die Ausländer? Mitnichten. Warum sollten sie demokratische Grundwerte in Frage stellen? Warum sollten sie sich durch bewusstes Verweigern des Deutschlernens ihre Chancen verbauen? Warum also werden diese Unterstellungen so oft wiederholt...?

Zugewanderte müssen mit Unterstellungen leben und sich permanent gegen Unterstellungen zur Wehr setzen – und sei es die Unterstellung, dass sie ja "ganz anders" sind und eine "ganz andere Kultur" haben. Die Unterstellung der ganz anderen Kultur ist eine Falle. Stimmt man dieser Aussage zu, separiert man sich von dem kulturellen Mainstream und hat von vornherein die Chance zur Integration verpasst. Widerspricht man dieser Aussage, so verleugnet man die eigene Herkunft und Ethnie.

Eine weitere Feststellung, die permanent repetiert wird, lautet: in Deutschland seien die Frauen gleichberechtigt und die Ausländer müssten sich mit dieser Tatsache abfinden. Wieso abfinden? Ich stelle die Gegenthese auf, dass die meisten Zugewanderten die gesellschaftliche Rolle der Frau genauso oder ganz ähnlich definieren wie die deutschen (Männer).

Es gibt einen alten Medizinerspruch, der lautet: "Seltene Krankheiten sind selten." Dieser Spruch ist auch auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragbar. Auch hier sind seltene Ereignisse selten, gerade in diesem Zusammenhang kennen wir die Gauß´sche Normverteilung. Im Bezug auf die Zugewanderten geschieht nun ein Paradoxon: es herrscht Konsens darüber, dass hier die seltenen Ereignisse als die normbestimmenden angesehen werden, und es wird unterstellt, dass Ausnahmen die Regel sind.

Konsequenterweise folgt daraus: Zuwanderern, die einen Dauerstatus in Deutschland anstreben, sollte man so viel gesunden Menschenverstand unterstellen, dass sie wissen: Jeder, der in dieser Gesellschaft erfolgreich leben will, muss die Spielregeln kennen und einhalten.

Hemmnis Nr. 4: Rassismus

Deutschland hat sein Rassismusproblem noch nicht im Griff. Neben den gewalttätigen Angriffen gegenüber anders aussehenden Menschen, neben rassistischen Printprodukten und Internetseiten gibt es auch den alltäglichen Rassismus, der den Zugewanderten das Leben in diesem Land jeden Tag schwer macht.

Rassismus ist ein unglaubliches Hemmnis für ein Einwanderungsland – denn ein Einwanderungsland lebt ja davon, dass Menschen dahin kommen, die anders aussehen, andere ethnische Wurzeln haben und sich möglicherweise auch anders kleiden.

Diskriminierungen auf Grund der äußeren Merkmale dieser Menschen baut eine unüberwindbare Barriere zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten auf.

Konsequenterweise folgt daraus:

  • Strukturell ist die Schaffung eines AD-Gesetzes eine ganz wichtige Voraussetzung für ein Einwanderungsland, das traditionell nie ein Vielvölkerstaat war.

  • Gesellschaftlich ist die Aufgabe die Bekämpfung des Rassismus durch Aufklärung der Einheimischen und Unterstützung der Zugewanderten.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zwei Säulen von Hemmnissen abgebaut werden müssen, wenn sich Deutschland zu einem Einwanderungsland entwickeln soll:

  • die strukturellen, sprich die gesetzlichen Regelungen sowie

  • die atmosphärisch-gesellschaftlichen.

Die erste Säule ist die Voraussetzung dafür, dass die zweite Säule abgebaut werden kann. Der Staat muss den Willen haben und diesen auch zeigen, damit sich der gesellschaftliche Diskurs als ein positiver, einwanderungsfreundlicher gestalten kann. Letztendlich geht es darum, dass ein Selbstverständnis als Einwanderungsland entsteht.

Dr. Lale Akgün, Dipl. Psychologin, Leiterin des Landeszentrums für Zuwanderung NRW in Solingen

zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln