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Plenum 25. Januar - Dringlichliche Anfragen

„Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf: Was wusste die Landesregierung"


- Es gilt das gesprochene Wort -


Niedersachsens Sozialministerin Dr. Carola Reimann hat namens der Landesregierung auf eine Dringliche Anfrage der Fraktion der AFD geantwortet.

Die Abgeordneten der Fraktion der AFD hatten gefragt:

Den Online-Nachrichten des NDR war am 15. Januar 2018 zu entnehmen, dass Ärzte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf bis Mitte der 1970er-Jahre mindestens an 286 Kindern Versuche mit Schlafmitteln und Psychopharmaka vorgenommen haben sollen. Darüber hinaus sollen auch fragwürdige Untersuchungsmethoden an Kindern getestet worden sein. Es soll sich um Medizinversuche gehandelt haben, für die offenbar nicht die nötigen Zustimmungen der jeweiligen Erziehungsberechtigten vorgelegen haben sollen.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Seit wann lagen der Landesregierung Erkenntnisse zu den geschilderten Vorgängen vor?

2. Welche Maßnahme unternahm die Landesregierung, nachdem sie davon Kenntnis erlangte?


Ministerin Dr. Carola Reimann beantwortete die Anfrage namens der Landesregierung:

Zu 1.:

Am 07. Oktober 2016 veröffentlichte die Fachzeitschrift Sozial Geschichte online die Ergebnisse einer Studie zu Arzneimittelstudien an Heimkindern in den 1950er bis 1970er Jahren (S. Wagner: „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte“ Sozial Geschichte online Heft 19 (2016), S. 61 - 113). Hieraus ging hervor, dass auch in Niedersachsen solche Arzneimittelstudien stattgefunden haben. Es sollen sowohl Impfstoffe als auch Psychopharmaka in Kinderheimen einschließlich Säuglingsheimen in Niedersachsen getestet worden sein.

Nachdem das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS) Kenntnis von der Studie erhalten hatte, wurde mit der Autorin der Studie, Frau Silvia Wagner, am 18.10.2016 ein persönliches Gespräch geführt. Frau Wagner berichtete von Betroffenen, die angegeben hätten, dass sie häufig angehalten worden seien, Medikamente einzunehmen, ohne dass sie krank waren. Zeitweise seien medizinische Untersuchungen, wie z.B. Elektroenzephalografie (EEG), aber auch Lumbalpunktionen durchgeführt worden.

Laut Studie seien folgende Ärzte aus Niedersachsen an den Arzneimittelversuchen beteiligt gewesen: Herr Prof. Dr. Joppich von der Universitätsklinik Göttingen, mutmaßlich verantwortlich für Versuche mit Impfstoffen, und die Herren Prof. Dr. Hans Heinze (senior), Klinik Wunstorf, und Dr. Hans Heinze (junior), später Psychiatriereferent im MS Niedersachsen, mutmaßlich verantwortlich für Versuche mit Psychopharmaka.

Zu 2.:

Auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dem Gespräch mit Frau Wagner und der veröffentlichten Studie entschied das MS, einen Forschungsauftrag zur weitergehenden Untersuchung der Arzneimittelversuche an Heimkindern in Niedersachsen zu vergeben. Dafür stellte das Sozialministerium Haushaltsmittel in Höhe von 150.000 Euro zur Verfügung.

Der Forschungsauftrag „Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1976“ erging im August an das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) in Stuttgart.

Da das Fachministerium als Träger des damaligen Landeskrankenhauses Wunstorf und als damalige oberste Dienstbehörde Gegenstand der Untersuchung sein wird, wurde für die Auftragsvergabe ein Forschungsinstitut außerhalb Niedersachsens gewählt, um weitgehende Interessenunabhängigkeit zu wahren.


Ziel des Forschungsprojekts ist es, Arzneimittel- und Impfstudien in Niedersachsen an Säuglingen, Kindern und Jugendlichen in der Heimunterbringung und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nachkriegszeit wissenschaftlich untersuchen und aufarbeiten zu lassen. Dabei wird die Studie auch die Zusammenarbeit der Ärztinnen und Ärzte mit der Pharmaindustrie beleuchten.

Ferner sind folgende Inhalte Gegenstand des Forschungsauftrags:

  • Die Rolle des damaligen Sozialministeriums: Haben dort Kenntnisse über die Arzneimittelstudien vorgelegen und wenn ja, hat das Sozialministerium damals in irgendeiner Form versucht auf die Studien Einfluss zunehmen? In diesem Zusammenhang wird insbesondere geprüft, ob es damals durch handelnde Personen im Ministerium eine Mitverantwortung gab und welche Rolle dabei vor allem Herr Dr. Hans Heinze (junior) hatte. Dieser war als Psychiatriereferent im Sozialministerium von 1974 bis 1989 tätig, nachdem er von 1957 bis 1961 an der Universität Gießen und von 1961 bis 1974 dann in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung der Landesanstalt Wunstorf beschäftigt war.

  • Die ethischen und medizinischen Standards sowie rechtlichen Vorgaben für Arzneimittelstudien an Minderjährigen in den Jahren 1945-1976: Inwieweit wurde gegen diese im Rahmen der Arzneimittelversuche verstoßen?

  • Das Ausmaß: Gab es weitere ähnliche Vorfälle auch in anderen Einrichtungen und waren über die bekannten Personen weitere Ärztinnen und Ärzte bzw. Bedienstete des Landes daran beteiligt?

    Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist auch für die Betroffenen sehr wichtig, die als Kinder und Jugendliche Grausames erlitten haben. Ihnen gegenüber sind wir verpflichtet, die damaligen Vorgänge transparent und vollständig aufzuklären. Das kann das Erlebte zwar nicht ungeschehen machen, aber zur Verarbeitung beitragen.

    Erste Ergebnisse in Form eines Zwischenberichts werden Mitte des Jahres 2018 (30.06.2018) vorliegen, der Abschlussberichte ist Ende des Jahres 2018 (final spätestens bis zum 19.01.2019) vorzulegen.

Schmuckgrafik (zum Artikel: Pressemitteilungen) Bildrechte: LGLN

Artikel-Informationen

erstellt am:
25.01.2018

Ansprechpartner/in:
Naila Eid

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