Mittelschicht und ihre Belastungen sind im Fokus der diesjährigen Sozialberichterstattung: Niedersächsisches Sozialministerium und Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege stellen „Handlungsorientierte Sozialberichterstattung“ vor
Am heutigen Mittwoch, 24. September stellte das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung im Rahmen eines eigenen Fachtages die „Handlungsorientierte Sozialberichterstattung“ (HSBN) vor. Die HSBN nimmt in diesem Jahr die Mittelschicht in den Blick. Sie macht etwa zwei Drittel der Bevölkerung aus und ist das Rückgrat der Gesellschaft. Wenn Haushalte aus der Mitte der Gesellschaft in Armut abzurutschen drohen, deutet dies auf strukturelle Risiken hin. Ursächlich sind vielfach die aktuelle wirtschaftliche Krise und die gegenwärtige weltpolitische Lage. Der heutige Fachtag geht der Frage nach, wer von der Erosion der Mittelschicht möglicherweise betroffen ist.
Niedersachsens Sozialminister Dr. Andreas Philippi stellt anlässlich des Fachtags fest: „Soziale Abstiegsängste können das Vertrauen in Institutionen, den sozialen Zusammenhalt und demokratische Prozesse gefährden. Daher ist es so wichtig, genau hinzuschauen, wer diesem Risiko tatsächlich ausgesetzt ist. Unser Sozialstaat fängt diese Menschen auf. Er bietet die Unterstützung, die gebraucht wird. Damit das auch so bleibt, ist es wichtig, unsere Sozialleistungssysteme zukunftsfest aufzustellen. Wir müssen daran arbeiten, dass Leistungen zielgerichtet und effizient bei den Menschen ankommen. Ohne grundlegende Reformen, die zu einer Vereinfachung und Entbürokratisierung führen, wird dies jedoch nicht gelingen. Ich setze große Hoffnungen in die Kommission zur Sozialstaatsreform, die auf Bundesebene bis Anfang 2026 Vorschläge erarbeiten soll. Als Mitglied der Kommission wird Niedersachsen seinen Teil dazu beitragen.“
Der diesjährige Anlagenbericht der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege in Niedersachsen (LAG FW) schließt an die HSBN mit der Untersuchung der Armutsrisiken im Kontext von Pflegebedürftigkeit an. Er zeigt, dass das Armutsrisiko im Falle des Eintretens einer Pflegebedürftigkeit steigt und die Leistungen der Pflegeversicherung aktuell bei Weitem nicht ausreichen, um dieses Armutsrisiko zu kompensieren. Sehr deutlich wird das ganze Ausmaß pflegebedingter Armut, wenn Menschen auf vollstationäre Pflege angewiesen sind. In Niedersachsen müssen pflegebedürftige Menschen im ersten Jahr des Aufenthalts in einer vollstationären Pflegeeinrichtung im Durchschnitt 2.785 Euro pro Monat aus eigener Tasche zahlen (Stand Juli 2025). Fast 40 Prozent der in vollstationären Pflegeeinrichtungen lebenden Menschen sind in Niedersachsen auf Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege SGB XII) angewiesen.
„Die Pflegeversicherung wurde eingeführt, um pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu verhindern. Mittlerweile verfehlt sie dieses ursprüngliche Ziel. Das Armutsrisiko von Menschen, die auf Grund der Art ihrer Pflegebedürftigkeit oder auf Grund ihres nicht vorhandenen Netzwerkes auf vollstationäre Pflege angewiesen sind, steigt trotz Leistungen der Pflegeversicherung massiv an", konstatiert Kerstin Tack, Vorsitzende der LAG FW. Um pflegebedingte Armut zu vermeiden, fordert die LAG FW neben Maßnahmen zur Stabilisierung und Verbreiterung der Einnahmeseite der Pflegeversicherung eine grundlegende Strukturreform der Pflegeversicherung, die mindestens eine „echte“ Begrenzung der Eigenanteile in allen Versorgungsbereichen umfasst und gleichzeitig zu keiner Reduktion des Leistungsumfanges führt. Der Bericht gibt wichtige Impulse zur Verbesserung der Situation in der Pflege.
Im Zukunftspakt Pflege setzt sich auch Minister Philippi aktuell für eine Begrenzung der Kosten für Pflegebedürftige ein. Kerstin Tack dankt Herrn Dr. Peter Szynka sowie dem Fachausschuss Pflege und Gesundheit der LAG FW für die Erstellung des Anlagenberichtes und stellt abschließend fest: „Handlungsleitend für jeden Reformprozess muss zudem sein, die professionellen Pflegestrukturen zu stabilisieren und zu erhalten; insbesondere durch kontinuierliche und verlässliche Sicherung der wirtschaftlichen Situation von Pflegeeinrichtungen und -diensten sowie pflegerischer Infrastruktur. Denn: Professionelle Pflege ist systemrelevant. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die vielen pflegebedürftigen Menschen und zur notwendigen Entlastung der stark belasteten pflegenden An- und Zugehörigen in Niedersachsen.“
Die HSBN und der Anlagenbericht sind unter www.ms.niedersachsen.de/hsbn veröffentlicht.
Hintergrund:
In der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. sind die sechs Niedersächsischen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen: Dies sind Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Jüdische Wohlfahrt. Damit repräsentiert die LAG FW e. V. etwa 8 000 soziale Einrichtungen, Beratungsstellen und Dienste mit mehr als 300 000 hauptamtlich Beschäftigten und über 500 000 ehrenamtlichen Helfer*innen. Zur LAG FW e. V. gehören zudem die Landesstelle Jugendschutz, die Landesstelle für Suchtfragen, die LAG Arbeit | Bildung | Teilhabe und die Stelle für soziale Innovation der Freien Wohlfahrtspflege.
Artikel-Informationen
erstellt am:
24.09.2025