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Heiko Geiling: Gegen die Logik der Missachtung

Integration, Geborgenheit und Sicherheit stellen sich in einer Gesellschaft erst dann ein, wenn Menschen öffentlich präsent und anerkannt werden.

Anlässlich des Krieges in Jugoslawien machte uns die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic auf die schrecklichen Konsequenzen eines Mechanismus aufmerksam, den ich als die ,Logik der Missachtung’ bezeichnen möchte. Nach Ansicht der Schriftstellerin hat die schon seit jeher bestehende "Unsichtbarkeit" der Kosovo-Albaner in der jugoslawischen Gesellschaft dazu geführt, dass ihr unter Apartheidsbedingungen durch Mord und Vertreibung erzeugtes Leiden bei der serbischen Bevölkerung kaum Mitgefühl hervorgerufen hat. Die Kosovo-Albaner, so Slavenka Drakulic am 18. Mai in der FAZ, "existierten von uns getrennt, kaum wahrnehmbare Menschen an den Rändern der Gesellschaft, mit ihrer merkwürdigen Sprache, von der kein Mensch ein Wort verstand, ihrer Stammesorganisation, den Blutrachehändeln". Sie seien demnach nicht als Mitbürger behandelt worden, seien nicht wie andere in das alltägliche Leben integriert gewesen. Die von der serbischen Bevölkerung wie auch von der politischen Opposition in Jugoslawien nicht als ihresgleichen wahrgenommenen Kosovo-Albaner hätten somit trotz schrecklicher Verfolgung und Vertreibung wenig Chancen gehabt, in der jugoslawischen Gesellschaft auf Mitleid oder gar auf Hilfe zu stoßen. Diese Mitleidslosigkeit vieler Serben könne zwar durch nichts entschuldigt, aber mit der hergestellten Unsichtbarkeit der Kosovo-Albaner zumindest erklärt werden.

Die hier in brutalster Form zum Ausdruck gebrachte gesellschaftliche und politische Logik der Missachtung stützt sich auf verbreitete Vorurteile, wie sie nur in segmentierten, relativ geschlossenen Gesellschaften gedeihen können, die sich dabei immer am Abgrund rassistischer Ausgrenzung bewegen. Hier handelt es sich um Bedingungen und Ausdrucksformen dessen, was als die Kehrseite von sozialer Integration, von Geborgenheit und von Zugehörigkeitsgefühl zu bezeichnen ist.

Folgerichtig stellt sich soziale Integration, Geborgenheit und Sicherheit als Ausdruck gesellschaftlichen ,Zusammen-Halts’ erst dann her, wenn die sozialen und politischen Bedingungen öffentlicher Präsenz und Selbstdarstellung als Voraussetzung von ,Be-Achtung’ gegeben sind. Erst die Wahrnehmung und Anerkennung des anderen als ,Mit-Menschen’ schafft Integration unter ,Mit-Bürgern’ und verhindert Teilnahmslosigkeit und Gefühlskälte angesichts von Leid und Elend. Erst wenn das Soziale in Gestalt des jeweils spezifischen Sprechens, Diskutierens, Streitens, Musizierens und Zeigens von Symbolen in Nachbarschaften, Gemeinden und Verbänden allgemein sichtbar wird, entsteht in allen Gesellschaften Öffentlichkeit. Je offener und lebendiger diese Öffentlichkeit ist, desto größer sind die Chancen, dass sich Individuen ein eigenes Bild von ihrer Umwelt machen und sich zuordnen können bzw. sich mehr oder minder selbstverantwortlich sozial verorten und auch abgrenzen können. Umgekehrt mindert sich dabei zugleich das Risiko, dass Fremdes unmittelbar bedrohlich wirkt, da in lebendiger Öffentlichkeit nichts wirklich fremd bleiben kann, weil es in persönlicher Gestalt jeweils individuell erfahrbar wird. Persönlicher Halt und Geborgenheit als innere Sicherheit sind insofern immer verbunden mit äußerer Sicherheit in Gestalt einer vielfältigen und lebendigen Öffentlichkeit.

Nun beklagen viele gerade auch in westlichen Gesellschaften immer wieder einen zunehmenden Verlust an konsensstiftenden, gemeinschaftsbezogenen Werten und Orientierungen. Darüber hinaus wird die Politik dazu aufgefordert, über administrative, verteilende und politisch-steuernde Leistungen hinaus auch sinnhafte und wertbezogene Integrationsmaßnahmen zu veranlassen. Stimmt also mit der zuvor skizzierten, auf lebendiger Öffentlichkeit basierenden sozialen Integration etwas nicht? Oder genauer: Stimmt etwas mit den Voraussetzungen für und mit der Zugänglichkeit zur Öffentlichkeit nicht? Abgesehen davon, dass sich insbesondere die deutsche Geschichte kaum dafür eignet, Vergangenheit zum sinnstiftenden Orientierungspunkt der beklagten Gegenwart und Zukunft zu machen, scheint es angebracht zu sein, auf einige wesentliche Bedingungen und Herausforderungen moderner demokratischer Gesellschaften und der ihnen zu Grunde liegenden Öffentlichkeit einzugehen.

Die Klagen beziehen sich auf den augenscheinlichen Bedeutungsverlust von Religion und überlieferten Traditionen, auf den gesellschaftlichen Verfall von Werten und auf anomische Tendenzen. Dabei wird jedoch verkannt, dass moderne, nach liberalen demokratischen Maßstäben gefasste Gesellschaften nicht auf einem vorgegebenen imaginären Wertekonsens basieren können. Dies mag in vordemokratischen traditionalen Gesellschaften der Fall gewesen sein, als alle öffentlichen und politischen Handlungen noch in ein religiöses System der Weltdeutung eingebunden waren, als Öffentlichkeit allenfalls ständisch und segmentiert organisiert war und somit gesellschaftlicher Konsens fremdbestimmt wurde. Auch in totalitären Systemen ohne öffentlich zugängliche Sphäre, ohne Meinungsvielfalt und abseits öffentlicher Politik herrscht nur ein mit Gewalt erzwungener Wertekonsens. Hingegen charakterisieren sich moderne demokratische Gesellschaften vom Anspruch her durch eine radikale Verweltlichung. Ihre Legitimitätsgrundlagen sind nicht mehr Religion, Tradition oder Gewaltherrschaft, sondern die freien und gleichen bzw. demokratisch verfassten Bedingungen des öffentlich kontrollierten gemeinsamen Handelns aller Bürgerinnen und Bürger.

Diese Bedingungen sind nicht selten ernüchternd, weil sie jeden herausfordern und zu jeder Zeit und an jedem Ort erneut bestätigt werden müssen. Es handelt sich hier um die Grundbedingungen unseres Demokratieprinzips, das auch im Regelwerk der institutionellen Gewaltenteilung wirksam ist und nicht wenigen Zeitgenossen suspekt erscheint. Sie sehen den einzelnen Bürger überfordert, für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen und die gesellschaftliche Vielfalt und Pluralität ohne religiöse und andere traditionale Wertorientierungen für sich selbst zu ordnen. Sie trauen ihm nicht zu, gleichzeitig mit anderen auf der Grundlage öffentlichen Streits und nachvollziehbarer Diskurse sozialen Konsens bzw. Zusammenhalt zu praktizieren. Selbst in der politischen Philosophie wird bezweifelt, ob der moderne Rechtsstaat mit seiner institutionellen und rechtlichen Konstruktion des Konfliktausgleichs ohne traditionale bzw. vorpolitische Wertorientierungen auskommen kann. Sozialphilosophisch geleitete "Komunitaristen" beharren ebenso wie andere Wertkonservative darauf, ihre auf Konsens und Einheit zielenden republikanischen Grundorientierungen bzw. ihre religiös-ethischen Maßstäbe verpflichtend für alle zu kultivieren und sogar institutionell abzusichern.

Damit würde jedoch das Demokratieprinzip ausgehebelt werden, weil Politik dann auf transzendente, außerweltliche und somit nicht allgemein zugängliche und diskutierbare Grundlagen gestellt wäre. Unabhängig davon haben sich unsere modernen Einwanderungsgesellschafften mittlerweile in ihren Strukturen grundlegend verändert. Sie lassen sich nicht mehr über vormoderne Merkmalszuschreibungen wie ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeiten integrieren. Die in der Regel anerkannte Vielfalt der Lebensformen, die Pluralität der Sinnorientierungen und damit die erfahrene Relativität der eigenen kulturellen Existenzform sind in modernen Gesellschaften zur Alltagserfahrung und zum eigentlichen Qualitätsmerkmal geworden. Unter diesen Bedingungen können die Ressourcen für sozialen Zusammenhalt, für Geborgenheit und Halt nicht einfach "von oben" verordnet, aus der Geschichte geliehen oder nur herbeiphantasiert, sondern müssen selbständig in sozialer und politischer Praxis geschaffen werden: durch das Aushalten von Differenzen sowie durch das demokratisch bzw. öffentlich geregelte Durchstehen und Bewältigen von Interessengegensätzen und Konflikten.

Was hat nun dieser demokratietheoretische Hinweis auf die grundsätzliche Konfliktorientierung unserer Gesellschaft mit der ,Logik der Missachtung’ bzw. mit deren Vermeidung durch die Praxis lebendiger Öffentlichkeit zu tun? Ein Hinweis auf die frühe Arbeiterbewegung kann dies verdeutlichen – zumal es deren Kämpfe im 19. Jahrhundert waren, die in Deutschland maßgeblich zur Etablierung einer sozialstaatlich fundierten Demokratie und damit zu einem völlig neuen gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftsbezogenen Wertekonsens geführt haben. In langjährigen und bis in das 20. Jahrhundert hineinreichenden Auseinandersetzungen um Rede-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, um Wahl- und Arbeitsrecht sowie sozialstaatliche Grundsicherungen hat die Arbeiterbewegung vordemokratische, abgeschlossene Wertorientierungen und Institutionen aufgebrochen. Zuvor noch als Pöbel, Proletariat oder vaterlandslose Gesellen ausgegrenzt, hat sie durch mehr oder minder spektakuläre Aktionen ,Be-Achtung’ gewonnen. Die Arbeiterbewegung war nicht deswegen erfolgreich, weil sie sich dem vorgegebenen Wertekonsens des Kaiserreichs untergeordnet hat, sondern weil sie konsequent die Öffentlichkeit erkämpft hat. Zugleich beanspruchte sie für sich, das über den Konflikt etablierte neue demokratische System zur Bühne öffentlicher Darstellung der gesellschaftlichen Interessengegensätze zu machen.

Allerdings sind auch die mit der Arbeiterbewegung erreichten Ziele der sozialen Integration und Sicherheit sowie auch sogar die Bedingungen des Demokratieprinzips nicht auf Dauer gestellt. Auch sie müssen sich unter veränderten Bedingungen immer wieder erneut im Konflikt um Bestätigung bemühen. Als befristeter gesellschaftlicher Konsens gelingt dies jedoch nur dann, wenn die darüber geführten Auseinandersetzungen unter gleichen und allgemein akzeptierten Bedingungen geführt werden. Sofern aus dem sozialen und politischen Feld der darüber geführten Kämpfe niemand von vornherein ausgegrenzt wird, d.h. sofern der politische Raum in Nachbarschaften, Gemeinden, Verbänden und Institutionen als zugänglich und als gemeinsam geteilter erfahren wird, ist davon auszugehen, dass diese Kultur des Konflikts gesellschaftlich integrierend wirkt. Die aktuellen Diskussionen um eine Neuordnung unserer sozialen Sicherungssysteme (einschließlich der hochsolidarischen gesetzlichen Krankenversicherung) geben ein Beispiel dafür, wie im politischen Kampf immer wieder versucht wird, durch massiven Einsatz von ohnehin ungleich verteilten materiellen Ressourcen Einzelinteressen als Gemeinwohlinteressen zu deklarieren. Sofern auch diese einer Logik der Missachtung folgenden Strategien durchbrochen werden können, sofern also allen Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zur Öffentlichkeit gewährt wird, ist die Stabilität unserer Gesellschaft gesichert.

Prof. Dr. Heiko Geiling, Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis) und Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover

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