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Portrait: Werner Mellentin - "Ich bin gerne unterwegs"

Ein Portrait von Annette Volland


Werner Mellentin hat wenig Zeit: "Um 9.30 Uhr kommt eine Chinesin, um 10.30 Uhr ein deutsches Mädchen, um 11.30 Uhr eine Kosovarin, 12.30 Uhr eine Eriträerin", zählt er am Telefon auf. "Wann passt es denn?"

An einem Donnerstag um 11.29 Uhr rollt ein roter VW Golf mit der Aufschrift "Fahrschule" durch die Husarenstraße zum Moltkeplatz in Hannover. Seit zwei Minuten wartet Sabaheta Kraja an der Ecke vor einem Schaufenster. Ein Plakat füllt es fast aus: 15 Euro-Führerscheinklassen auf einen Blick. Die Frau will bloß ein ganz normales Auto fahren – und das ist schwierig genug.

In einem Winkel von gut 45 Grad stößt der rote Wagen rückwärts und leicht röhrend auf die Bordsteinkante zu, stoppt, rollt vor, dann rückwärts etwas näher, hat nun den Bogen raus und hält. Ein blonder Teenager öffnet erleichtert die Fahrertür. Auf der anderen Seite steigt ein braungebrannter, grauhaariger Mann aus dem Wagen. Sein Oberkörper bleibt im Stehen leicht nach vorn geknickt, ein bisschen wie im Sitzen.

Seit vierzig Jahren ist Werner Mellentin Fahrlehrer. Sabaheta Kraja, seit sieben Jahren in Deutschland und von Beruf Krankenschwester, nimmt gleich ihre 18. Fahrstunde. Die Kosovarin ist ungefähr Mellentins 6500ste Schülerin – wenn man die Soldaten nicht mitzählt, die er Ende der fünfziger Jahre ausgebildet hat.

Als 1971 eine neue Straßenverkehrsordnung eingeführt wurde, gab es zunächst keine fremdsprachigen Prüfungsbögen. Mellentin ließ die Bögen für einige spanische Schüler übersetzen. Das sprach sich herum. Immer mehr Spanier kamen. Mellentin unterrichtete sie nach jeder Theoriestunde noch 30 Minuten länger – und lernte dabei Stück für Stück spanisch. Jetzt spricht er die Sprache fließend.

25 Jahre hat Mellentin dann am Samstag auf spanisch erklärt, wie man sich vor einem Bahnübergang verhält und wer an der Kreuzung Vorfahrt hat. 1200 spanisch sprechenden Menschen hat er zum Führerschein verholfen – darunter fast alle 240 Spanier, die in seinem Wohnort Lehrte leben.

Sabaheta Kraja dreht den Schlüssel, lässt die Kupplung kommen. Zwei Reifen knirschen am Bordstein. Ein Paar braune Augen im linken Rückspiegel, ein Paar blaue im rechten. Mellentin dreht den Kopf zum linken Seitenfenster: "Den Schulterblick nicht vergessen...." mahnt er. "Letzte Woche haben alle – na, na, wird das jetzt gut gehen, Frau Kraja? - fünf Prüflinge bestanden." Zehn Prozent fallen bei ihm durch, woanders sind es dreißig.

Sabaheta Kraja hat die Theoretische schon hinter sich. Mellentin dirigiert sie dorthin, wo demnächst der Prüfer einsteigen wird. "Parken Sie hier am Bordstein." Die Schülerin ist vorsichtig. "Nochmal, Frau Kraja, das war nichts." Ein neuer Versuch. Der Wagen steht, der Lehrer ist nicht zufrieden. "Gucken Sie mal..." sagt er und öffnet die Beifahrertür. "Das reicht nicht für den Prüfer."

40 Jahre Fahrlehrer – es muss was dran sein an dem Beruf. "Mein Weltbild ist christlich geprägt. Da sind Menschen das wertvollste - rechts, bitte. Erst der Spiegel! – Und der ständige Umgang mit 18jährigen", sagt Mellentin zum rückwärtigen Seitenfenster, "der hält mich auf dem Laufenden". Der Kopf dreht nach vorn, die Augen kleben am Verkehr. Der älteste Schüler, den er ausgebildet hat, war 74. "Ich habe auch schon Gehörlose durch die Prüfung gebracht." Ansage per Zeichen, für Korrekturen rechts ran und eine Notiz schreiben. "In den Sechzigern habe ich einen Querschnitt durch die Gesellschaft gehabt, Professoren wie Handwerker. Heute sind die meisten gerade 18 und gehen - Gas, Gas, Gas! – gehen noch zur Schule" Sabaheta Krajah ist 32 und fährt gerade zu zögerlich auf die Autobahn.

"Ich führe ja eigentlich – Blinker setzen! - ein doppeltes Leben. In Lehrte bin ich in der spanischen Gemeinde seit fast dreißig Jahren aktiv. Seit 1992 bin ich Diakon – so, wir fahren ab –. Ich predige und taufe auf spanisch." Das nimmt die freie Zeit in Anspruch, aber die Kinder sind erwachsen. Ehefrau Rita arbeitet ehrenamtlich für die Caritas. Zusammen waren beide mehrmals in Spanien und 1992 zum ersten Mal bei Ordensschwestern in Kolumbien. "Nach 17 Jahren Briefkontakt wollten wir uns die Projekte anzusehen, die wir aus Lehrte unterstützen." Eine tolle Reise war das, er war noch zwei Mal dort. "Ich bin den Spaniern dankbar. Sie haben mir zu einer Fremdsprache verholfen. Die hätte ich sonst nie gelernt. Ich musste mit 14 von der Schule gehen und im Kalibergbau Geld verdienen. Jetzt spreche ich spanisch in der Gemeinde und mit einigen südamerikanischen Fahrschülern. Die Generation von Spaniern, die heute Führerschein macht, ist hier aufgewachsen und spricht deutsch."

12.29 Uhr: Der rote VW-Golf rollt durch die Husarenstraße zum Moltkeplatz. "Die kolumbianischen Schwestern haben mich eingeladen – ja, da vor dem Grünen bitte halten – sechs Tage mit dem Motorboot durch Peru zu den Missionsstationen. Vielleicht mache ich das. Ich bin gerne unterwegs."

Annette Volland, Dipl. Journalistin, Hannover

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