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Fred Anders: Wir leben jetzt und heute" - Minderheiten in Osnabrück

Am Beispiel der Aussiedler und der spanischen Kolonie in Osnabrück zeichnet Fred Anders nach, ob die Einwanderer "ihr eigenes Ding machen", wie sie sich unterstützen und woran es ihnen mangelt.

Am Ziel ihrer Träume sind nur wenige angelangt. In der Heimat ihrer Vorfahren müssen viele Aussiedler erkennen, dass die Gesellschaft die "fremden Deutschen" nicht mehr vorbehaltlos willkommen heißt. Als Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze finden sich die Menschen schnell in der gleichen Minderheitensituation wieder, die sie in der Vergangenheit bereits zur Genüge kennengelernt haben. Einer, der es geschafft hat, ist Alexander Vogelmann. Der 35-Jährige aus Osnabrück hat sich auf Flugreisen in die Herkunftsgebiete der Aussiedler spezialisiert und gehört hier mittlerweile zu den Marktführern in Deutschland. Ein Exklusivvertrag mit der kasachischen Fluggesellschaft hat dem ehemaligen Piloten, der 1991 in die Bundesrepublik kam, zum Durchbruch verholfen. Heute beschäftigt er nach eigener Aussage 300 Angestellte. "Der Kunde bekommt bei uns eine bessere Beratung und das Vertrauensverhältnis ist größer", erklärt er sein Erfolgsrezept. Mittlerweile hat er für seine überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Kunden auch Pauschalziele in ganz Europa im Angebot.

Das Bedürfnis der Russlanddeutschen nach Vertrautem macht sich auch Louri Linets, ebenfalls aus Osnabrück, zunutze. Der Inhaber von Linto Computer hat sich die Rechte für russische Software gesichert. Seine Kunden kommen mittlerweile aus ganz Deutschland. Er macht mit seinen PC’s, die neben dem deutschen Betriebssystem auch eine russische Version enthalten, gute Umsätze. Der Kunde kann beim Start die entsprechende Kommandosprache wählen. Dazu hat er einen weiteren Hit im Angebot: Der Schnellkurs Deutsch auf CD-ROM, der auf eine Lernmethode des sowjetischen Geheimdienstes zurückgeht und Sione auf den Ausländereinsatz vorbereitete. Beide Unternehmer stellen ihre Erfolgsgeschichte beim Festival vor, das der Osnabrücker Integrationsverein für Aussiedler "Neubürger" veranstaltet.

Neubürger e.V.

1995 gegründet, hat der Verein in diesem Jahr bundesweit das erste Fest dieser Art auf die Beine gestellt. Das Motto: für ein friedliches Zusammenleben. Bereits am späten Vormittag ist so etwas wie eine Happening-Atmosphäre spürbar. Kaukasische Fleischspieße und Hähnchen auf georgische Art werden vorbereitet, vor dem Konzert mit Knopfakkordeon und Balalaika-Kontrabass spricht die Prominenz. "Ein Gewinn" seien die 9000 Aussiedler für die Stadt, betont der Oberbürgermeister und der neue Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung sagt den Gästen nichts neues, wenn er die Sprachkurse "als Schlüssel für Integration und Akzeptanz in Deutschland" bezeichnet.

Es geht um Teilhabe

Katharina Baumtrog, Vorsitzende des Vereins, weiß um die Probleme der "Neubürger": "Jeder muss sich erst in einer neuen Gesellschaft zurechtfinden, man lässt uns aber verdammt wenig Zeit dafür". Die Vergangenheit könne man nicht einfach durchstreichen und auch die russische Sprache behalte für viele eine wichtige Bedeutung. "Ich liebe dich – dieser Satz verliert auf deutsch an Sinn und Wärme". Keine Umerziehung, sondern Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unter Wahrung der eigenen Identität. So wollen die Aussiedler, allein diese Bezeichnung hat für einige einen negativen Klang, ihre Zukunft in einem Land sehen, dass ihnen zuweilen fremder ist, als sie zugeben wollen.

Auf Sonderleistungen verzichten, selber mit anpacken und nicht zusehen, wie "man uns integriert". Katharina Baumtrog möchte den Russlanddeutschen über den Verein eine Hilfestellung geben, um in der neuen Heimat zurechtzukommen. Dabei legt sie im Gegensatz zur Landsmannschaft den Schwerpunkt auf die Arbeit mit Jugendlichen. Computerkurse sowie Sprachtraining auf Englisch und Deutsch sollen auch die berufliche Perspektive der jungen Leute verbessern. Sorgen bereitet ihr die Tatsache, dass viele von ihnen aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oft nur eine niedrige Qualifizierung erreichen werden. Auch diejenigen, die aus den Herkunftsländern eine akademische Ausbildung mitgebracht haben, sind nicht vor Arbeitslosigkeit sicher. In Osnabrück haben lediglich ein paar Ärzte in Krankenhäusern eine adäquate Tätigkeit gefunden. Drei russische Restaurants und einige Reisebüros werden von Aussiedlern geführt. Darüber hinaus verdienen manche als Übersetzer. Viele Akademiker müssen aber auch einen Job mit geringer Qualifikation in Kauf nehmen, wenn sie überhaupt eine Chance auf Arbeit haben wollen.

Die Seele schreit

Victor Hurr leitet das Kunststudio im Neubürger-Verein. Der 50-jährige Künstler bietet Kindern und Jugendlichen zweimal pro Woche Gelegenheit für kreatives Schaffen. Ein Mädchen, das ihren Namen nicht nennen möchte, hat erst vor kurzem mit dem Zeichnen von Porträts begonnen. Heute vollendet sie bereits die erste Skizze, die sie nach einem Modellkopf angefertigt hat. "Man lernt hier schnell und der Lehrer ist sehr nett", erklärt sie in akzentfreiem Deutsch. Für Victor Hurr haben sich die Erwartungen in Deutschland noch nicht erfüllt. Obwohl er seine Arbeiten bereits einmal ausstellen konnte, lassen sich nur schwer Käufer für seine Bilder finden. Gemeinsam mit Tamara Alt, die den Musikunterricht im Verein organisiert, ist er der Meinung: "Die Kinder in der ehemaligen UdSSR wurden in ihren speziellen Begabungen stärker gefördert". Jetzt versuchen sie im Verein, den hohen Ansprüchen der Vergangenheit ein bisschen gerecht zu werden. Jeweils sechs Stunden pro Woche bieten sie ihre Kurse an. Marina Talitskaja, die ebenfalls zwei Gruppen betreut, gibt zu: "Da schreit meine Seele, ich bin so enttäuscht über die hiesige Schulausbildung".

Vertrauen gewinnen

Axel Aufderhaar, der als Sozialarbeiter für die Jugendlichen einen offenen Treff anbietet, muss sich seit vier Monaten das Vertrauen der Kids schwer erkämpfen. Als "Fremdkörper" fühlte er sich lange Zeit, erst langsam öffnen sich die jungen Leute. "In ihnen schlagen zwei Herzen", erklärt er. Der starke Zusammenhalt innerhalb der Gruppe erschwere die Akzeptanz von Außenstehenden. "Erstmal reagieren sie nach dem Motto: Jeder ist gegen uns". Offenheit und Geduld sind nach den Worten des 42-jährigen die richtigen Rezepte, um die Sprachlosigkeit der Jugendlichen zu überwinden.

Endlich dazugehören

Elvira Driediger hatte 1977, als ihr die Ausreise aus der Sowjetunion mit 18 Jahren gelang, noch andere Voraussetzungen angetroffen. Schnell zurechtgefunden hat sie sich damals in Deutschland. Abitur nachgemacht, einige Semester studiert und eine Familie gegründet – für Gedanken über die eigene Vergangenheit blieb wenig Raum. "Drüben war man ein Deutscher und somit außen vor, hier war es dann eine tiefe Sehnsucht, endlich dazuzugehören". Erst viele Jahre später hat sie sich intensiv mit ihrem früheren Leben auseinandergesetzt. Inzwischen hat sie einen Verlag gegründet, Integrationszeitschriften und Bücher zur Geschichte der Russlanddeutschen herausgegeben. "Jetzt freue ich mich, meine Wurzeln zu kennen und in beiden Welten gelebt zu haben". Sie bemängelt, dass die politische Integration der Russlanddeutschen in Deutschland bislang so gut wie noch gar nicht begonnen habe.

Das Gefühl der Geborgenheit in der eigenen Sprache beschreibt Nina Brihn, die in Georgsmarienhütte vor den Toren Osnabrücks "Marie’s Hütte" leitet. Das soziale Zentrum für alle Frauen bietet auch Aussiedlerinnen Unterstützung für sämtliche Lebensbereiche. "Wenn die Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion über ihre persönliche Situation, ihre Ängste und ihre Depressionen sprechen, dann kann man das nicht auf deutsch. Das funktioniert nur in der Sprache, die man richtig beherrscht".

Szenenwechsel

"Wenn ich den spanischen Club betrete, fühle ich mich plötzlich wie zu Hause". Den Alltag hinter sich lassen und in die zweite Haut schlüpfen – für Julio Molina ist das Hinterhofgebäude an der Liebigstraße in Osnabrück zur Ersatzheimat geworden. Die eigentliche Heimat, Valladolid in der Provinz Kastillien, hat er bereits 1961 als 18-Jähriger verlassen. Deutsche Unternehmen forderten den Einsatz von "Gastarbeitern", als für den Wiederaufbau des Landes junge Männer knapp wurden. Schnell richtete die Bundesanstalt für Arbeit Anwerbebüros in vielen südeuropäischen Ländern ein, vor dem Gang an die Fleischtöpfe der deutschen Industrie wurden die Bewerber auf Herz und Nieren geprüft. "Von deutscher Seite leitete eine Ärztin die Untersuchung. Das Antreten ganz ohne Kleidung kostete doch etwas Überwindung", erinnert sich der jetzige Clubvorsitzende an den ersten Kontakt mit seinem Gastland zurück.

Irgendwie hängen geblieben

Den ersten Arbeitsvertrag unterschrieb der heute 56-Jährige in Lippstadt: Als E-Schweißer für 1,85 Mark die Stunde. Von gastlichen Verhältnissen habe man anfangs nicht sprechen können. In Holzbaracken für ehemalige Gefangene teilten sich bis zu sechs Arbeiter ein karges Zimmer. "Und für uns blieben natürlich die schlechtesten Arbeitsplätze". Erst später hätten es die Landsleute auch zum Meister oder Vorarbeiter gebracht. Aus den "zwei oder drei Jahren" in Deutschland nach dem Motto "viel arbeiten und viel Geld sparen" sind für Julio Molina jetzt 38 Jahre geworden. Man sei irgendwie hier hängen geblieben. Durch die Familienzusammenführung und den Schulbesuch der Kinder hätte sich für viele eine "ungewollte Bleibe" entwickelt. Später hat ihm die kaufmännische Ausbildung in Spanien den Weg an einen staubfreien Arbeitsplatz geebnet.

Seit 32 Jahren ist Molina jetzt für ein bekanntes Bankhaus in Osnabrück tätig. "In den ersten Jahren brauchten viele Spanier Konten und Kredite". Den spanischen Club Español Hesselkamp hat er als Treffpunkt für seine Landsleute 1966 mit aufgebaut. "Damals war man in deutschen Lokalen fehl am Platze". Hier finden die heute nur noch knapp 1000 Spanier in Osnabrück ihr Domizil, viele Gastarbeiter der ersten Generation zog es bereits mit der hart erkämpften Rente gen Süden.

Alles was man in Deutschland braucht, um der Heimat ein kleines Stück näher zu sein, findet sich hier im Club wieder. Vor der Großbildleinwand fiebern die Fußballbegeisterten am Wochenende mit ihren Helden aus der spanischen Liga. In der Kleiderkammer liegen die Flamencoröcke der Mädchentanzgruppe einträchtig neben den traditionell in den Nationalfarben gehaltenen gelb-roten Trikots der ersten Fußballmannschaft. Paella und Pescado sind genauso selbstverständlich wie Sangria und ein trockener Rioja. Am Wochenende lässt sich hier spanische Ungezwungenheit besonders authentisch erleben. Marktplatzatmosphäre wird zu Mittag spürbar, Kinder langweilen sich nicht artig am Tisch, sondern flitzen durch die Stuhlreihen. Für die Erwachsenen scheint die Fülle der Gesprächsthemen unerschöpflich. Die Geräuschkulisse schaukelt sich im Verlauf des frühen Nachmittags mächtig auf.

Wissen, wer man ist

"Wir wollen die spanische Kultur, Gewohnheiten und Sitten pflegen und an unsere Kinder weitergeben", erläutert Molina die Zielsetzung des Clubs. Dazu gehören muttersprachliche Kurse ebenso wie Angebote in Landeskunde – insbesondere für Kinder und Jugendliche. Daneben bietet der Club Begleitung bei Behördengängen, Beistand in schwierigen familiären Situationen, Ausflugsangebote für die ganze Familie sowie Sport und Kultur. Was in den 60er Jahren als Zufluchtstätte begann, ist heute aber mehr als nur eine spanische Enklave. Von den über 400 Mitgliedern kommen rund ein Drittel aus dem "Gastland". Die meisten wollen bei Tintenfischringen und deutschem Bier ihre Urlaubserinnerungen auffrischen. Für Julio Molina ist es wichtig "zu wissen, wer man ist", um sich mit der Gesellschaft im Einwanderungsland auseinanderzusetzen. "Es wäre Selbstmord, die eigene Identität nicht zu kennen". Trotz der vielen Kontakte mit Einheimischen spürt er auch noch die Unterschiede. "Spanier sind unproblematischer und können besser improvisieren", sagt er.

Mühevoll ist die Suche nach weiteren Spuren spanischer Lebensart in der Hansestadt. Gepflegte iberische Gastlichkeit gibt es seit einiger Zeit nicht mehr, nur die Küche der ehemaligen Kolonien in Lateinamerika kann der Gourmet in Osnabrück noch genießen. In der Volkshochschule bieten einige spanische Lehrkräfte Sprachkurse an. Während Grundkurse der Renner sind, versammeln sich bei Spanisch Stufe 5 oft nur noch wenige Schüler. Vielen reicht das übliche Urlaubervokabular. In der kleinen Kirche neben dem Dom zelebriert ein spanischer Priester jeden Sonntag die Messe. Eva-Maria (24) und Christina (22) Rodriguez Lopez kennen ihre Heimat nur von den jährlichen Urlaubsflügen. Der Vater kam in den 60er Jahren und arbeitete zu Zeiten des legendären Karmann-Ghia für den bekannten Osnabrücker Autobauer. Über den Unterricht zweimal pro Woche in der spanischen Schule wollten die Eltern für die beiden Töchter den Kontakt zur Heimat aufrechterhalten. Die Zweisprachigkeit ist heute für Eva-Maria und Christina selbstverständlich, besonders bei Verwandtenbesuchen ist fließendes Spanisch unerlässlich. "Das wäre echt peinlich, wenn man die eigene Muttersprache nicht kann", glaubt Christina.

Starke Familienbande

Vor dem Disco-Besuch am Wochenende ist seit vielen Jahren der spanische Club als Treffpunkt angesagt. Klönen, sich in vertrauter Umgebung mit Freunden treffen und den Start ins Wochenende genießen. Bis vor kurzem haben die beiden auch in der Falmenco-Gruppe des Clubs getanzt. Die Wochenenden in den angestammten Diskotheken verlaufen nicht immer ganz reibungslos, insbesondere seitdem ein Osnabrücker Szeneladen ganz besonders strenge Maßstäbe bei der Auswahl des Publikums anlegt. "Die Ausweiskontrollen nerven ganz schön". Angesichts der spanischen Dokumente hat allerdings bislang noch kein Türsteher den Eintritt verweigert. An "den Deutschen" haben sie aber auch nach mehr als zwanzig Jahren noch eine Menge auszusetzen. "Die Spanier leben anders, die Offenheit gegenüber den Mitmenschen ist viel größer". Das bemerke man überall. Ob im Lebensmittelladen um die Ecke oder auf der Straße. "Wir leben jetzt und heute – und die Deutschen arbeiten, arbeiten und arbeiten", meint Eva-Maria. Unerträglich sei auch der Umgang junger Leute mit ihren Eltern. "Ein Streit ist ja normal, aber diese Respektlosigkeit gegenüber den Älteren ist schwer zu verstehen". Unverständnis hat Eva-Maria von ihrem Arbeitgeber erfahren, als die Mutter krank wurde und sie für eine längere Zeit die häusliche Pflege übernehmen wollte. "Das kapiert keiner, hier werden die Menschen sofort ins Pflegeheim gesteckt". Für sie habe in dem Moment nur die Mutter gezählt, "arbeiten kann ich wieder, wenn es ihr besser geht". Starke Familienbande finden die beiden besonders wichtig. Eine gewisse Kälte könne man der hiesigen Gesellschaft nicht absprechen. Dass Eva-Maria trotzdem seit einiger Zeit einen deutschen Freund hat, ist da aber kein Widerspruch. "Der muss halt aufpassen, dass er mit mir klar kommt, so wie ich bin".

Fred Anders, Journalist, Belm

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