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Wolfgang Vögele: Kirchen: Orte zur Orientierung

In Kirchen, Moscheen oder Synagogen versammeln sich Menschen, beten miteinander, kommunizieren, suchen Orientierung und Sicherheit. Dabei ist die Geborgenheit nur eine Facette eine lebendigen Religion – wenn auch eine für den Menschen offenbar wichtige. Doch nicht immer sind diese Orte der Orientierung so gut sichtbar wie die alles überragende Kirche im Zentrum der Altstadt.

Stellen wir uns einen Touristen vor, der mit dem Zug in eine Stadt reist, die er noch nicht kennt. Damit es nicht zu unpersönlich wird, soll er einen Namen haben. Nennen wir ihn Herrn Mayer.

Herr Mayer steigt aus dem Zug und geht durch die Unterführung zum Bahnhofsvorplatz. Dort ist ein Stadtplan ausgehängt, den er studiert. Er notiert sich die Sehenswürdigkeiten, die er besuchen will. Er schaut sich um und sieht als erstes den Kirchturm der Stadtkirche, die im Zentrum der Altstadt liegt. Dort ist der Kirchturm mit den Glocken das höchste Gebäude. Von allen Punkten der Altstadt aus kann man ihn sehen.

Vielleicht besucht Herr Mayer neben den anderen Sehenswürdigkeiten auch diese alte Stadtkirche. Dann wird ihm auffallen: in der Vertikalen zeigt der Kirchturm in den Himmel, in der Horizontalen sind alte Kirchen immer in Richtung Osten gebaut. Die bunt verglasten Fenster des Chores zeigen nach Osten, gen Orient. Das Licht kommt am Morgen aus dem Osten, dort geht die Sonne auf. Dort liegt Jerusalem, die Stadt der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu. Die Kirche ist auf eine Geschichte bezogen, die einen bestimmten Ort hat. Die alte Stadtkirche ist der Ort, an dem diese Geschichte vergegenwärtigt wird.

Herr Mayer betritt die Kirche durch das Seitenportal. Weil es noch früh am Morgen ist, fällt das Licht der Sonne von Südosten auf den Altar. Der Altar ist mit Blumen geschmückt. Daneben liegt eine Bibel. Darüber ist ein Kreuz angebracht. Herr Mayer läuft in der Kirche herum und sieht sich alles an: Deckengemälde, Glasmalereien, Taufstein, Kanzel, die Orgel auf der Empore. Er ist fasziniert von all den Kunstwerken. Dennoch ist die Kirche kein Museum. Denn alles, was Herr Mayer sieht, jedes Kunstwerk ist auf irgendeine Weise auf die Geschichte des Jesus von Nazareth bezogen.

Vielleicht entdeckt er dann den "Gemeindebrief", der am Eingang der Kirche ausliegen. Darin wird all das angekündigt, was in der Gemeinde geschieht: Gottesdienste, Taufen, Beerdigungen, Konfirmationen, Gesprächsgruppen. Er wird entdecken, dass die Kirche versucht, den Menschen Orientierung zu geben: die Taufe, die Konfirmation, die Eheschließung, die Beerdigung – die Kirche begleitet einen Christen durch das ganze Leben, von der Geburt bis zum Tod. Wenn er will, begleitet sie ihn auch durch seinen Alltag. Dafür bietet sie ihm jeden Sonntag einen Gottesdienst an. Der Gottesdienst soll Vertrauen, Trost, Stärkung geben.

Nachdem Herr Mayer in einem Café den Gemeindebrief durchgeblättert hat, entscheidet er sich, nach seiner Rückkehr die Kirche in seinem Wohnort in einer Vorstadt aufzusuchen. Er weiß, dass nicht nur in den christlichen Kirchen Religion praktiziert wird. Er hätte auch die wiederaufgebaute Synagoge in der Altstadt oder die Moschee aufsuchen können, für die vor ein paar Jahren in einem Industriegebiet die Baugenehmigung erteilt wurde.

Herr Mayer sucht nach einer Kirche in der Vorstadt, in der er lebt, aber er entdeckt keinen Kirchturm. Nach mehrfachem Nachfragen steht er schließlich vor einem – Gemeindezentrum. Das Gemeindezentrum ist viel jünger als die Kirche in der Altstadt, deren Grundstein vor mehreren hundert Jahren gelegt wurde. Es ist ein moderner funktionaler Zweckbau, dessen Waschbeton allerdings schon einige Risse zeigt. Herr Mayer tritt ein und zufällig trifft er die Pfarrerin, die sich gerade auf den Konfirmandenunterricht vorbereitet. Er kommt mit ihr ins Gespräch. "Ich bin froh, dass wir ein Gemeindezentrum haben", sagt sie. "Den großen Raum nutzen wir nicht nur für den Gottesdienst, sondern für all das, was in der Gemeinde sonst noch geschieht. Dafür müssen wir nur die Stühle umstellen. Montags treffen sich junge Erwachsene, um gemeinsam die Bibel zu lesen und darüber zu sprechen. Dienstags kommen die Seniorinnen und Senioren zu Kaffee und Gespräch. Am Mittwoch trifft sich die Jugendgruppe. Am Donnerstag kommt der Arbeitskreis Asyl."

"Wieso machen Sie das alles? Dafür können die Menschen doch auch in die Volkshochschule gehen?", fragt der Herr Mayer.

"Manchmal frage ich mich das auch", antwortet die Pfarrerin. "Aber für mich ist es so: all diese Menschen, egal ob junge oder alte, treffen sich, um für ihr Leben gemeinsam Orientierung zu suchen. Sicher, manchmal geht es beim Kaffeetrinken der Senioren oder bei den Jugendlichen nur um ganz alltägliche Themen. Aber oft ergeben sich auch Gespräche, die tiefer gehen, die die Menschen in ihrem Innersten berühren. Oft kommen dann diejenigen, die sich entschieden haben, eine unserer Gruppen zu besuchen, auch in den Gottesdienst."

Herr Mayer ist skeptisch: "Dort wird ihnen doch autoritär vorgeschrieben, wie sie sich zu orientieren, was sie zu glauben haben."

"Seit einigen Jahren haben wir angefangen, neue Wege zu gehen", sagt die Pfarrerin. "Ich treffe mich ein paar Tage vor dem Gottesdienst mit einer Gruppe, die über den Predigttext diskutiert. Wir bereiten den Gottesdienst gemeinsam vor."

"Schön, aber eigentlich doch viel zu harmlos, zu unpolitisch."

Die Pfarrerin lässt sich nicht beirren: "Letztes Jahr haben wir einer kurdischen Familie, die ausgewiesen werden sollte, im Gemeindehaus Kirchenasyl gewährt. Nach vielen Mühen und Gesprächen konnten wir erreichen, dass die Familie in Deutschland bleiben durfte. Auch das gehört für mich zum Auftrag der Kirche. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass die Kirche, wenn es nottut, auch Partei nimmt und zivilen Ungehorsam leisten muss."

Die beiden setzen das Gespräch noch ein paar Minuten fort, dann muss die Pfarrerin zum Konfirmandenunterricht. Aus einem der hinteren Räume hört man schon den Lärm der Jugendlichen.

Zwei Wochen später besucht Herr Mayer einen Gottesdienst. In der Predigt spricht die Pfarrerin darüber, wieso es sinnvoll ist, sich in einer Gemeinde zu engagieren. Einiges davon bleibt Herrn Mayer in Erinnerung: "Kirchen und Gemeinden haben den Auftrag, in die Gesellschaft hineinzuwirken und ihre Stimme zu erheben, wenn die Freiheit des Menschen gefährdet ist."

Herrn Mayer haben diese Sätze gefallen. Mit dieser Botschaft der Kirche kann er sich identifizieren. Aber wie sieht es mit der Wirklichkeit aus? Ein paar Tage später liest Herr Mayer in der Zeitung einen Artikel, der fast nur aus Statistiken über die Kirche besteht: wieviel Kirchensteuer eingenommen wird, wieviele Menschen in der Kirche arbeiten, wieviele Krankenhäuser, Schulen, Altenheime und Kindergärten sie betreibt, wieviele Menschen sich in ihr engagieren. Herr Mayer kann sich die Zahlen nicht merken. Der Artikel verschweigt auch die Probleme nicht, die die Kirchen haben: Viele Menschen treten aus der Kirche aus. Sie hat nicht mehr so viel Geld wie früher. Manches kann nicht mehr finanziert werden. Vieles, was die Kirche sagt, wird nicht mehr gehört. Bei einigen Gruppen innerhalb der Kirche macht sich deshalb Resignation breit.

Herr Mayer denkt: "Bei der Gemeinde, die ich besucht habe, war keine Resignation zu spüren. Mir haben die Gemeinschaft und die Gesprächsbereitschaft gefallen. Ich wurde eingeladen zum Gottesdienst. Niemand hat versucht, mich zu einem bestimmten Glauben zu zwingen. Ich wurde ernst genommen."

Kirchen sind Orte zur Orientierung, in der Altstadt, in der Vorstadt oder in einem Dorf. Das gilt im wörtlichen und übertragenden Sinn. Menschen versammeln sich, um zu singen, zu beten, die Texte der Bibel zu hören. Daraus ziehen sie dann Konsequenzen: für sich selbst, für die Familie, für ihr politisches Handeln. Oft sind sich die Christen nicht darüber einig, aber in einer pluralistischen Gesellschaft scheint das ganz normal, ebenso wie es ganz normal ist, das Nebeneinander unterschiedlicher Religionen zu akzeptieren, freundschaftliche Kontakte zu Moslems oder Juden zu pflegen und Dialoge zu führen, um das gegenseitige Verstehen zu lernen.

Auch Moscheen, denen nicht selten auch eine Schule, ein Café oder eine Einkaufsmöglichkeit angegliedert sind, können solche Orte der Orientierung, der Gemeinsamkeit und der Geborgenheit sein. Sie nehmen im Leben gläubiger Moslems eine zentrale Stelle ein, auch und gerade in der "Fremde". Zwar findet man sie in Niedersachsen häufiger an "verborgenen" Stellen wie z.B. in alltäglichen Hinterhöfen als an explizierten Orten, was bei nicht wenigen Andersgläubigen auch Misstrauen wecken kann. Ich bin aber sicher, dass auch Menschen islamischen Glaubens ihr "Haus" lieber dort wissen, als gar nicht. Ein größeres Miteinander in der Gesellschaft wird auch hier vielleicht zukünftig eine Veränderung ermöglichen, wie es bei Synagogen bereits der Fall ist.

Dr. Wolfgang Vögele, Evangelische Akademie Loccum

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