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Brücke zwischen den Kulturen - Muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen

von Ramazan Salman


Das Ethno-Medizinische Zentrum in Hannover hat ein Konzept entwickelt, das die Versorgung und Integration von Migrantinnen in das vorhandene Sozial- und Gesundheitswesen verbessern soll.

Muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen sind Migrantinnen, die zu Expertinnen für gesundheitliche Fragen und Antworten fortgebildet wurden. Als "Brücke zwischen den Kulturen" sollen sie helfen, zwischen dem Sozial- und Gesundheitswesen auf der einen und den Migrantinnen auf der anderen Seite sprachliche und kulturelle Verständigung sowie effektive Hilfeleistung zu ermöglichen. Dazu notwendige Fachkenntnisse und Handlungskompetenzen werden durch Aus- und Weiterbildung gesichert.

Besondere Belastungen

Ausländische Frauen und Mädchen sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Sie treffen Isolation im häuslichen Bereich, geringe Deutschkenntnisse und Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt heftiger als Männer. Geringere Verdienste, eine selten ausreichende Rente und höhere Arbeitslosigkeit sind die Folge. Viele ausländische Frauen arbeiten zudem gar nicht oder in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen und leben am Existenzminimum. Solche Einkommenseinbußen können meistens nur noch mit Sozialhilfe ausgeglichen werden. Hinzu tritt die mögliche Entfremdung der eigenen Kinder, die sich rasch die Gebräuche, Werte und Sprache der neuen Heimat aneignen. Es ist belastend für Mütter, von der Sprachkompetenz der Kinder oder des Ehemannes abhängig zu sein. Durch den Verlust des "großen Körpers", also des großfamiliären, nachbarschaftlichen oder persönlichen Hilfenetzwerkes, können Frauen und Mütter die Mehrfachbelastungen nur eingeschränkt bewältigen. Sie empfinden einen Kompetenzverlust in ihrer Rolle als Frau, Mutter und Hausfrau. Als zusätzlicher Stressfaktor wirkt sich die Tatsache, dass sie aufenthaltsrechtlich häufig an die eheliche Gemeinschaft gebunden sind.

So bleiben viele Belastungen unverarbeitet, gesundheitliche Beeinträchtigungen und mehr staatliche Fürsorge sind nicht selten die Folge. Migrantinnen leiden z.B. häufiger an Infektionskrankheiten, Magengeschwüren oder Rückenbeschwerden. Sie erleben öfter problematische Schwangerschaften und Totgeburten und nehmen Vorsorgeuntersuchungen kaum oder zu spät in Anspruch. Signifikante Unterschiede zur Gesamtbevölkerung ergeben sich auch bei psychisch bedingten Beschwerden. Auch soziale Ausgrenzungserfahrungen, die traumatische Zustände begünstigen, bleiben weitgehend unbehandelt, weil fremdsprachige Therapeuten fehlen.

Soziale und gesundheitliche Versorgung

Obwohl in den letzten Jahren Beratungsstellen und Gesundheitsdienste sich verstärkt auch Migrantinnen widmeten, sind diese Fachdienste ohne die Hilfe von Sprach- und Kulturberaterinnen überfordert. Ihnen fehlen kulturelle und soziale Hintergrundkenntnisse. Auch die Migrantinnen selbst sind nur unzureichend über Umfang und Angebot der Einrichtungen informiert und bleiben von präventiver Gesundheitsförderung gänzlich ausgeschlossen. Deshalb müssen die Zugangsbarrieren zunächst abgebaut und kulturspezifische und sprachlich gesicherte Angebote der Sozial- und Gesundheitsdienste geschaffen werden.

Immigrantinnen sowie die mit ihnen befassten Dienste haben einen großen Aufklärungsbedarf im Gesundheitsbereich – das zeigen nicht nur einschlägige Studien, sondern das ist auch die Erfahrung im Ethno-Medizinischen Zentrum. Deshalb haben wir zwischen 1993 und 1995 etwa 30 Veranstaltungen mit weiblichen Migrantenfachkräften in türkischer Sprache zu AIDS, Verhütung, Ernährung, Babypflege durchgeführt. Wir stellten fest, dass es sehr schwierig ist, die Zielgruppe zu erreichen. Vertrauensbildende Maßnahmen nahmen mehr Zeit in Anspruch als die Veranstaltungen selbst. Auch geeignete Referentinnen zu finden, erwies sich als schwierig, denn trotz muttersprachlicher Kenntnisse waren sie oft bei den Zielgruppen nicht akzeptiert. Referentinnen, die selber aus der Zielgruppe stammten, fanden jedoch Akzeptanz. Wieder einmal wurde klar: je "niedrigschwelliger" ein Seminarangebot war, umso eher erreichten wir gerade die Migrantinnen der ersten Generation. Dazu gehörten folgende Kriterien:

  • Kurse nur in Muttersprache

  • anschaulicher und gut nachvollziehbarer Unterricht

  • Treffpunkt an einem Ort in der Nähe und Nachbarschaft zu Migrantinnen

  • geregelte Kinderbetreuung

  • Kurse ausschließlich für Frauen

  • Berücksichtigung des häufigen ,funktionalen Analphabetismus‘ bei der Auswahl und dem Einsatz des Unterrichtsmaterials.

Diese Kriterien erfüllt jedoch kaum eine Referentin aus der Gesundheitsförderung. So lag die Idee nahe, geeignete muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen auszubilden, die aus dem Kulturkreis der Zielgruppe stammen und Informationen anschaulich und nachvollziehbar vermitteln können. Damit würden Migrantinnen den Unterricht nicht nur konsumieren, sondern könnten sich den Stoff aktiv aneignen. Zwischen Teilnehmerinnen und Dozentin würde ein lebendiger Prozess der Gegenseitigkeit entstehen.

Das Beispiel Niederlande

Glücklicherweise mussten wir in der Umsetzung "das Rad nicht neu erfinden", sondern konnten auf die umfassenden Erfahrungen eines erfolgreichen Projektes in den Niederlanden aufbauen. Dort war man gerade im Hinblick auf türkische und marokkanische Migrantinnen zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen und hatte bereits seit 1984 in Amsterdam mit der Ausbildung und dem Einsatz entsprechender Gesundheitsreferentinnen begonnen. Die Stiftung "El Samra" begleitet, koordiniert und unterstützt die Referentinnen so erfolgreich, dass andere Städte das Projekt kopierten. 1986 wurde die Ausbildung professionalisiert und von einer landesweiten Stiftung übernommen. 1993 waren in den Niederlanden bereits 89 muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen tätig.

Das Projekt in Hannover

Das Ethno-Medizinische Zentrum Hannover hat in Kooperation mit dem Landesverband der Volkshochschulen Niedersachsen und der Volkshochschule Hannover 1996 begonnen, muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen auszubilden, die dann ihrerseits das Gesundheitswissen und die Handlungskompetenz von Migrantinnen fördern können. In Seminaren und Gruppenberatungen sollen sie dann spezifische Inhalte für zunächst türkische Immigrantinnen mit geringen Deutschkenntnissen und wenig Unterrichtserfahrung nachvollziehbar und praktisch umsetzbar machen.

An der Ausbildung können Frauen (vorwiegend der 2. und 3. Generation) teilnehmen, die Deutsch und Türkisch beherrschen, Erfahrungen, Kenntnisse oder Interesse an gesundheitlichen, sozialen oder pädagogischen Fragen haben oder in einer entsprechenden Ausbildung sind. Der 160 Stunden umfassende Kurs besteht aus Unterricht, Gruppenarbeit, ein Praktikum in einer Klinik oder bei Fachärzten sowie einer schriftlichen und mündlichen Abschlussprüfung. Das didaktische Konzept geht davon aus, das Migrantinnen die Expertinnen ihrer Lebenssituation sind. Diese muss ihnen nicht erst vermittelt, sondern durch gezielten Erfahrungsaustausch bewusst gemacht werden. Die Frauen lernen, wie sie ihre erworbenen tieferreichenden gesundheitsbezogenen Kenntnisse in türkisch, deutsch und im situativen Wechsel zwischen den Sprachen anderen Frauen vermitteln können.

In Zukunft können also muttersprachliche Gesundheitsreferentinnen als Honorarkräfte von Einrichtungen und Diensten eingesetzt werden. Schon jetzt führen sie selbstständig türkischsprachige Veranstaltungen z.B. zu Themen wie Wechseljahre, gesunde Ernährung oder Familienplanungsmethoden u.v.m. durch. Das Projekt ist nicht sehr kostenaufwendig, dafür aber effektiv und flexibel. In einer Kurskritik äußerte eine angehende Referentin: "Seit ich an diesem Kurs teilnehme, spüre ich, dass da noch mehr ist, dass ich mehr kann als zu Hause sitzen und zu veröden, ich spüre, dass ich zu etwas nutze bin und anderen Landsfrauen helfen kann. Ich fühle mich jetzt wertvoller und nützlicher."

In diesem Sinne trägt das Projekt dazu bei, die breite Basis der Migrantinnen zu motivieren, Selbsthilfe kennen zu lernen und anzuwenden. Einige Referentinnen waren durch den Kurs derart motiviert, dass sie Ausbildungen im Gesundheitsbereich begannen. Der nächste Kurs wird in der Volkshochschule im Jahre 2001 beginnen.

Ramazan Salman, Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums in Hannover, Hannover

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