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Adriane Borger: Abenteuer in der Fremde

Die Migrationsgeschichte einer Drei-Generationen-Familie


José Gomez ist einfach nur ein Name. Ich habe ihn erfunden, doch seine Geschichte ist Realität. José Gomez und seine Familie stehen für viele Migrantenfamilien in Deutschland, spanische, türkische, italienische Familien. Sie alle haben ein gemeinsames Thema: die Rückkehr.

José Gomez lebt in der andalusischen Kleinstadt Conil de la Frontera in Spanien. Er ist gelernter Tischler, findet aber vor Ort keine Arbeit. 1960 schließt die Bundesrepublik Deutschland mit Spanien ein Anwerbeabkommen. José Gomez kommt mit einem der ersten Züge aus Spanien nach Deutschland, zusammen mit zwei seiner Brüder und mehreren Freunden und Bekannten aus seinem Heimatort. Er hat einen Vertrag für ein Jahr unterschrieben. Danach hofft er, in Spanien wieder etwas zu finden oder sich mit dem in Deutschland verdienten Geld eine eigene Existenz aufbauen zu können. José ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder; seine Familie bleibt in Spanien.

"Gerade die Unverbindlichkeit des befristeten Aufenthalts war offenbar eine wichtige psychologische Basis dafür, dass man sich auf das Abenteuer in der Fremde überhaupt einließ", schreibt Mathilde Jamin in ihrem Artikel "Migrationserfahrungen". Auch die deutsche Regierung ging von einem befristeten Aufenthalt der "Gastarbeiter" aus.

Nach zwei Jahren kehrt José Gomez nach Andalusien zurück. Doch in Conil de la Frontera gibt es immer noch keine Arbeit. Um eine eigene Firma aufzubauen, reicht Josés Geld nicht – oder vielleicht ist es auch sein Mut, der nicht reicht. Er hat Angst, mit einem eigenen Geschäft zu scheitern, die Verantwortung für die Familie in einer unsicheren Arbeitssituation wiegt zu schwer. Inzwischen ist sein drittes Kind geboren.

1965 geht José Gomez wieder nach Deutschland, findet Arbeit in einer kleinen Fabrik in Hannover, holt seine Familie nach. Seine Kinder Anna, Pedro und Pablo sind 8, 6 und 2 Jahre alt, als sie nach Deutschland kommen. Die jüngste, Vicenta, wird 1967 in Hannover geboren.

"Wann kehrt ihr zurück?"
Er lächelt.
"In einer Woche."
"In einer Woche?"
"Ja", sagt er. "Seit zehn Jahren
kehre ich immer nach einer
Woche zurück."

(aus "Deutschlandherren" von Nevzat Üstün)

Manuela Gomez, Josés Frau, stammt aus einer andalusischen Bauernfamilie. Sie hat weder Lesen noch Schreiben gelernt. Als Manuela José heiratete, übernahm sie die traditionelle Rolle der andalusischen Frauen: Kinder bekommen und großziehen, den Haushalt organisieren. Nun kommt sie nach Deutschland und findet sich in einer völlig neuen Situation wieder: Um mit vier Kindern in Hannover leben zu können, muss auch sie halbtags Geld verdienen. Die Sorge für die Kinder und den Haushalt bleiben trotzdem komplett an ihr hängen. Inzwischen arbeitet José im Schichtdienst. Für den Haushalt und die Kinder hat er kaum noch Zeit und noch weniger Energie. Manuela fühlt sich verraten, ist enttäuscht und überlastet.

"Eine ... Art, mit dem durch die Migration ausgelösten "Sozialen Tod" fertig zu werden, stellt die "Rückkehrillusion" dar. Die "Rückkehrillusion" interpretiere ich als eine spezifische Form von Todesverdrängung."(Dr. Dursun Tan, Sozialwissenschaftler)

Ein Freund von José, Ramon Gutierrez, war gleichzeitig mit ihm ausgewandert. Die Firma, in der er in Braunschweig arbeitet, gründet Ende der 70er Jahre eine Niederlassung in Barcelona. Ramon soll dort nun die Produktion leiten. Er bereitet die Rückkehr seiner Familie nach Spanien vor. Nach nur drei Monaten in Barcelona kommt Ramon Gutierrez nach Braunschweig zurück. Es ist ihm nicht gelungen, sich mit den Arbeitern in Barcelona zu verständigen. Sie hätten eine ganz andere Einstellung zur Arbeit, sagt er, könnten mit seiner "deutschen" Arbeitsmoral nichts anfangen.

Für Manuela und José Gomez war immer klar, dass sie beide irgendwann nach Andalusien zurückkehren würden. Ihre Kinder sollten aber in Deutschland trotzdem eine gute Ausbildung bekommen und sich beruflich und sozial etablieren. Manuela tut, was sie kann, damit ihre Kinder in der Schule mitkommen, Deutsch lernen, sich integrieren.

1973 verhängt die deutsche Regierung einen Anwerbestop. Durch die wirtschaftliche Rezession werden die ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Konkurrenten der Deutschen auf dem Arbeitsmarkt. Die Stimmung gegenüber den ehemaligen "Gastarbeitern" schlägt um. 1976 stirbt der spanische Diktator Franco. Nach fast 40 Jahren wird in Spanien die Demokratie wieder eingeführt. Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Aufbruchstimmung löst eine Rückwanderungswelle spanischer Migranten aus Deutschland aus.

Auch die älteren Gomez-Kinder Anna und Pedro wollen zurück nach Spanien. Sie sind mittlerweile 20 und 18 Jahre alt. In Deutschland fühlen sie sich als Menschen zweiter Klasse. Sie bekommen die Fremdenfeindlichkeit mitunter auch persönlich zu spüren.

"Die "Rückkehrillusion" wurde stets als eine Form von Kompensation für objektiv erduldete oder subjektiv empfundene Benachteiligung im Einwanderungsland gesehen". (Dursun Tan)

Anna Gomez versucht es als erste: Nach ihrer Ausbildung zur Friseurmeisterin geht sie nach Madrid und eröffnet dort einen Frisiersalon. Doch es läuft nicht gut für sie. Das Leben als alleinstehende, selbständige Frau und Unternehmerin in der fremden Großstadt übersteigt ihre Kräfte und ihr Durchsetzungsvermögen. Nach einem Jahr kehrt Anna Gomez zurück nach Hannover.

"Rückkehr ist Utopie und Utopie ist immer schön – bis man anfängt, sie zu verwirklichen", sagt die türkische Sozialarbeiterin Hülya Feise. "Wenn man sie verwirklichen will, dann fängt das richtige Leben an. Das hat mit Schmerzen zu tun – man muss Schmerzen aushalten können, um zurückzukehren."

Pedro Gomez wird Metall-Facharbeiter und heiratet eine Deutsche. Die beiden bekommen ein Kind und wandern nach Mallorca aus. Pedro findet dort Arbeit und fühlt sich wohl, doch nach einem Jahr scheitert die Beziehung zu seiner Frau. Sie kehrt mit der Tochter nach Deutschland zurück. Pedro bleibt zunächst in Spanien, entschließt sich aber nach einigen Monaten, wieder nach Hannover zu gehen, um den Kontakt zu seinem Kind nicht zu verlieren.

Doch das ist nicht so einfach: Pedro hat durch seinen längeren Spanien-Aufenthalt seine Aufenthaltsrechte in Deutschland verloren – und noch ist Spanien kein Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Nur mit Glück und dem Wohlwollen der Ausländerbehörde gelingt es dem in Hannover ausgebildeten Pedro Gomez, wieder einen eigenen Aufenthaltsstatus zu bekommen.

Sein Bruder Pablo durchlebt als Jugendlicher eine schwierige Zeit. Er wird drogensüchtig, dealt und klaut. Als er erwischt wird, droht Pablo die Abschiebung nach Spanien. Das würde möglicherweise die ganze Familie zur Rückkehr zwingen. Für Mutter Manuela jedenfalls ist vollkommen klar, dass sie ihren sechzehnjährigen, drogenabhängigen Sohn nicht alleine nach Spanien gehen lassen kann. Schließlich findet sich in der Nähe von Bremen ein Therapieplatz für Pablo. Er absolviert erfolgreich den Entzug und die Therapie und darf in Deutschland bleiben.

Die jüngste Gomez-Tochter Vicenta geht zum Studium nach Valencia. Sie studiert Spanisch, Englisch und Deutsch, wird Übersetzerin und Dolmetscherin. Bei einem ihrer Jobs lernt sie ihren Mann kennen, einen Deutschen. Sie zieht zu ihm nach Köln.

"Die als Übergangsstadium gedachte Migration entpuppt sich zunehmend als ein Endstadium. Der erduldete oder drohende "Soziale Tod" tritt ins Bewusstsein, die aufgeschobenen Wünsche für die Zeit nach der Rückkehr können nicht mehr verwirklicht werden, die unterdrückte oder verschobene Trauer bricht aus." (Dursun Tan)

Mit 50 Jahren stirbt Manuela Gomez in Hannover an einem Magenleiden. Sie wird in ihrem andalusischen Heimatort beerdigt.

"Wenn es aber etwas gibt, das durch die "Rückkehrillusion" am meisten aus dem Bewusstsein gedrängt wird, dann ist es die Vorstellung, dass man eines Tages in der Fremde sterben könnte... Denn der Tod macht jede noch so illusionäre Vorstellung von Rückkehr zunichte... Die ... Praxis, den Verstorbenen in sein Herkunftsland zu überführen und ihn dort zu bestatten, dürfte deshalb wohl als der letzte Versuch verstanden werden, die Migration noch zum Abschluss zu bringen – und sei es nach dem Tod". (Dr. Dursun Tan)

José Gomez wird nach 25 Jahren Schichtarbeit von seiner Firma entlassen – "betriebsbedingte Kündigung". Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit geht er in den Vorruhestand. Er beginnt zu pendeln, verbringt ein paar Monate in Andalusien bei seinen Verwandten, ein paar Monate in Deutschland, wo seine Kinder und Enkel leben. So geht das ein paar Jahre. Irgendwann in dieser Phase findet José Gomez in Spanien eine neue Partnerin. Acht Jahre nach seiner Entlassung zieht er schließlich "offiziell" nach Andalusien zurück, kommt nur noch ein- oder zweimal im Jahr zu Besuch nach Deutschland. Er hat es geschafft: er ist zurückgekehrt.

Anna Gomez ist heute in Hannover mit einem Spanier verheiratet und hat zwei halbwüchsige Söhne. Die Familie plant für nächstes Jahr ihren Umzug nach Madrid, wo Annas Mann herkommt. Annas Söhne freuen sich darauf, in Spanien zu leben. Sie selbst ist noch skeptisch...

Pedros Tochter Teresa ist jetzt 18. Nächstes Jahr macht sie ihr Abitur, danach möchte Teresa Medizin studieren, eine Familie gründen und nach Südafrika auswandern. Nicht nur für einige Zeit dort leben – wenn schon, dann will sie sich in dem neuen Land richtig einrichten und Wurzeln schlagen.

Adriane Borger, freie Journalistin, Hannover

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