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Thomas Garzke: Wahlverwandtschaften - Bericht über ein Filmprojekt -

Anruf am 12.Oktober 2000 vom Büro der Ausländerbeauftragten: "Uns liegt ein Antrag auf Filmförderung vor. Können Sie vielleicht mal einen Blick auf die Kalkulation werfen?" Klar doch! Am nächsten Montag habe ich Skript und Kalkulation. Eine herzerfrischende Geschichte ohne moralischen oder pädagogischen Zeigefinger, ein modernes Märchen mit der Botschaft, dass wir doch alle ein bisschen "Ausländer" sind! Die Geschichte spielt mit der grotesken Idee, dass die Besucher einer Theateraufführung Zutrittberechtigung entsprechend ihrer nationalen Zugehörigkeit oder derer ihrer Eltern und Großeltern erhalten. Der Protagonist setzt auf seine deutsche Herkunft, aber er hat die Rechnung ohne seine Mutter gemacht...

Die ursprüngliche Idee hatte Nicole Lingner, Referendarin für Englisch und Biologie, das Drehbuch stammt von Levin Alexander. Regisseur und Produzent Nils Loof, 30, möchte das Projekt realisieren. Die Kalkulation ist hoch gepokert: von ca. DM 140.000 Gesamtfinanzbedarf durch Rückstellungen und Eigenleistung auf einen Förderbedarf von DM 24.000 zu kommen, ist schon mehr als leicht gewagt. Das heißt: um das Projekt überhaupt zu ermöglichen, würden alle Beteiligten ohne Gagen und Honorare tätig sein. Das Vertrackte an Filmförderung ist, dass bei mehreren fördernden Einrichtungen die kalkulierte Summe aufgehen muss, d.h. die Zusage der Ausländerbeauftragten ist an die Auflage gekoppelt, dass der Rest der Summe auch noch zusammenkommt. Das fällt schwer. Die Gruppe, mit dabei: Michaela Warlich, die mit der Förderzusage der Ausländerbeauftragten den ersten Lichtblick erlebt, muss herbe Niederlagen einstecken. Sie versucht, fehlende Mittel durch Ko-Produktion von Matthias-Film zu erhalten, doch daraus wird leider nichts. Die Niedersächsische Lottostiftung kann durch Vermittlung des NLI gewonnen werden.

Der ursprünglich angesetzte Dreh-termin, 17. bis 19. Oktober, muss verschoben werden. Es finden sich beim ersten Termin ganze sieben Komparsen, die aus freien Stücken mitmachen wollen. Bei einem weiteren Castingtermin findet sich noch eine Handvoll Freiwilliger. In der Zwischenzeit hat ein Drohschreiben aus der rechten Ecke erst für Miss-Stimmung gesorgt, dann aber die Kräfte mobilisiert: Jetzt erst recht! Jeder und jede spricht noch irgendwelche Verwandte und Bekannte an.

Plötzlich die Nachricht: die Berghofstiftung bewilligt
neben der Stiftung Edelhof und der Pelikan
Vertriebsgesellschaft eine nennenswerte Summe;
damit gibt es ausreichend Fördermittel und es kann
gedreht werden! Fachhochschule, Medienhaus
Hannover, NDR, NLI, Kodak und andere geben
technische Unterstützung. Drehbeginn: 1.
Dezember.

In den Eingangsräumen einer Fortbildungsfirma (Architektur der 20er Jahre) wird das Foyer eines Provinztheaters mit sparsamen Mitteln glaubhaft nachgebildet. Gedreht wird auf Zelluloid, um anschließend alle Optionen offen zu haben. Das Team arbeitet konzentriert, niemals kommt Hektik auf.

Es gibt einen Aufenthaltsraum und eine Garderobe, einen kleinen Schminkplatz und die Möglichkeit, Textilien aufzubügeln. Ständig stehen leckere Brötchen, Kaffee, Mineralwasser, Säfte bereit und alle sind permanent am Futtern, weil die Wartezeiten ziemlich lang sind.

Von Zeit zu Zeit kommt Uli, der Produktionsleiter, herein und ruft die Schauspieler und Komparsen für die nächste Szene auf. Noch ein bisschen nachfrisieren und -pudern, letzte Fusseln beseitigen – und auf geht‘s! Nico und Thomas korrigieren das Licht, während Christian die Kamera ausrichtet. Thomas, der Kameraassistent, kontrolliert die Tiefenschärfe, Rike, die Ausstatterin, justiert Requisiten. Stephanie notiert bei jedem Darsteller und Komparsen akribisch, wie die Kleidung sitzen muss, damit die szenischen Anschlüsse nachher stimmen. Dies ist extrem wichtig, weil nicht chronologisch gedreht wird. Während der Dreharbeiten wird gelegentlich das Drehbuch abgeändert.

Dann kommt große Freude auf, als am Nachmittag ein Riesenberg Pizzen gebracht wird. Ein Gastronom aus der Calenberger Neustadt – La Luce – hat spontan angeboten, das Catering zu übernehmen, als er von dem Filmprojekt hörte. Nach drei Drehtagen hat er 170 Mahlzeiten gespendet und ist so fasziniert, dass er beim Drehen stundenlang zusieht.

Unter den Komparsen ist auch meine alte Freundin Holle. Jemand sagt: "Sie macht sich gut als Paradiesvogel in der Schlange!" Mein Freund Ecki kann am Sonntag nicht dabei sein, deshalb ist er in der letzten Einstellung mit ihm "angeschnitten", so dass es nicht auffällt, wenn er in der nächsten Einstellung gar nicht mehr da ist. Ich glaube, ein biss-chen wurmt ihn das.

Der erste Ausländer, der in der Warteschlange nach hinten komplimentiert wird, ist ein mazedonischer Fahrlehrer, der zwischendurch arbeiten muss, aber zusagt, dass er abends wieder dabei sei. Aber das klappt irgendwie nicht. Und die bange Frage ist: Was wird mit dem Anschluss?

Rechts vor mir steht in der Schlange ein Grieche mit
sehr klassischem Profil. Als er schroff nach hinten
kommandiert wird, macht er wirklich den Eindruck, als
sei er sehr beleidigt.

Links von ihm steht eine junge Schauspielerin, die mir
später sagt, wenn sie keine Sprechrolle bekommen
hätte, hätte sie auch nicht mitgemacht.

Wer in den Drehpausen für sich bleibt, ist selbst schuld. Es ist wirklich interessant, wer aus welchen Motiven bei dem Projekt dabei ist. Ich erfahre, dass der Darsteller von Dr. Brand mit Ingrid Steeger verheiratet war. Irgendwann heißt es mal, 5.000 Mark für eine Woche Kameraarbeit oder Schauspielerei sei doch ziemlich üppig .... Aber wenn man bedenkt, dass derjenige vielleicht nur 18 Wochen im Jahr ein Engagement hat, sieht das schon anders aus. Von der Darstellerin von Mutter Hilde erfahre ich, dass ihr die Arbeit an dem Film "Anni und Paul" von Tarik Mustafa, Student der Filmklasse Hannover, sehr gefallen habe.

Zu Beginn jeder Aufnahme ruft Uli, der Produktionsleiter, ein energisches "Ruhe, bitte!" Dann folgt von dem Teammitglied mit der Klappe: "Ton?" – "Ton läuft!" – "Video?" – "Video läuft!" – "Kamera?" – "Kamera läuft!" – "Vierzehn, die dritte" und Klappe! Anstelle eines zackigen "Und Action!!!" kommt von Nils ein bestimmtes "Bitte!". Mein amerikanischer Freund Irwin, kampferprobt durch Arbeit am Set von James-Bond-Produktionen, meint: "For a director he ist pretty soft!".

Am Sonntag hat Michaela die Maske übernommen und Nicole gibt ihr Bestes beim Brötchenschmieren. Es kann nicht oft genug gesagt werden, wie wichtig die Leckereien für die Stimmung sind. Irgendwann bringt Michaela einen Fernseher und einen Videorecorder in den Aufenthaltsraum und legt einen Trickfilm ein.

Sonntag Nachmittag ist am Set das Rauchverbot quasi aufgehoben. Die Nervosität wächst langsam, weil abzusehen ist, dass es spät werden wird. Aber an diesem Tag müssen die Dreharbeiten abgeschlossen werden. Um 22 Uhr ist die letzte Einstellung abgedreht. Das Team muss aber noch bis morgens 4 Uhr schuften, um alle Geräte und Utensilien zu verstauen und die Räumlichkeiten zu reinigen.

Beim Schnitt stellt sich heraus, dass doch Kleinigkeiten nachgedreht werden müssen. Das fertige Produkt ist ein Film, der "rund" läuft, viel Spaß macht und hohe Professionalität ausstrahlt. Es ist kaum zu glauben, wie durch den Schnitt aus den 73 Einstellungen ein Werk aus einem Guss wird! Alle Beteiligten können stolz darauf sein! In Niedersachsen wird das NLI die Distribution übernehmen, es wird von einer Auflage von 1.000 Videokopien ausgegangen, die voraussichtlich über die örtlichen Medienzentren verteilt werden. Um den Erfolg dieses wunderbaren Films braucht man sich keine Sorgen zu machen, er wird seinen Weg machen!

Thomas Garzke, Dezernent im NLI, Hildesheim

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