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Kokora Michel Gnéba: Angst vor Kulturverlust? Stirb und Werde

Die in Deutschland neuerdings immer akuter werdende Ausländerfeindlichkeit wird u.a. damit begründet, dass man Angst vor dem Verlust der deutschen Kultur habe. Angeblich bestehe Gefahr einer eventuellen Überschwemmung der einheimischen deutschen Kultur durch zu viele eingewanderte ausländische Kulturen, die sich zudem der einheimischen gegenüber als wenig anpassungsbereit und -fähig erweisen würden. Obwohl die heutigen Lebensverhältnisse und -bedingungen von denen der sogenannten Goethezeit verschieden sind, ließe sich hier fragen: Wie hätte Goethe, das nationale Emblem der deutschen Kultur, auf eine solche Haltung seiner Landsleute reagieren können?

Dass die Deutschen – vor allem in Deutschland – deutsch bleiben wollen, dass es in Deutschland vorwiegend deutsch aussehen und deutsche Stimmung empfunden werden soll, dass die Deutschen ihre kulturelle Identität verteidigen, hätte Johann Wolfgang von Goethe sowohl in seiner Jugend als auch in seinen alten Jahren vollkommen gerecht gefunden. Dies ist auch nichts anderes als der Ausdruck des Individuationsprinzips, ohne das (und dessen dialektischen Zusammenhang mit dem Integrationsprinzip) kein Leben aus Goethescher Sicht möglich ist. Auch das deutsche Volk entkommt diesem Naturgesetz – aus Goethescher Sicht – nicht. Nur würde Goethe die sogenannte Angst seiner heutigen Landsleute vor dem Verlust ihrer Kultur sicherlich nicht teilen.

In seinem Aufsatz über die deutsche Baukunst (1772) verteidigte und pries der Stürmer und Dränger Goethe leidenschaftlich die deutsche Kultur durch den gotischen Baustil des Straßburger Doms gegen die griechisch-römische Baukunst. Durch seinen in diesem Aufsatz geprägten Begriff von "charakteristisch(er) Kunst" forderte er Respekt vor dem Charakteristischen der damals noch gering geschätzten deutschen Kultur und damit auch vor jeder Kultur. In diesem Sinne verfasste er im Mannesalter sein Drama Egmont (1787). Obwohl Egmont, der Titelheld, seine Heimat Niederlande der politischen Herrschaft von Spanien nicht unbedingt entziehen will, fordert er für sie (die Niederlande) eine Verwaltung, die sowohl in ihrem Geist als auch in ihrer Personalauswahl die kulturelle Identität der Niederländer berücksichtigte. Aus Besorgnis um den Verlust der "eigenen Souveränität" von den damaligen deutschen Kulturzentren "wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover", welche "eine bewunderungswürdige Volkskultur" belebten, wodurch für ihn "Deutschland groß" war, vertrat Goethe in bezug auf die zu seiner Zeit schon besprochene deutsche Einigung die föderative Form. Er sah nämlich in der kulturellen Partikularität von jedem all dieser deutschen Kulturzentren einen bereichernden Faktor, der nicht durch die Einigung verloren gehen sollte. In diesem Sinne würde er heutzutage sicherlich für die Erhaltung der Eigenheit jedes Volkes – also auch des deutschen Volks – gegenüber einer Globalisierung im Sinne einer uniformen Weltkultur plädieren.

Goethe war ja derjenige, der durch seinen Begriff der Weltliteratur schon zu seiner Zeit das begrüßt hatte, was heutzutage "Dialog der Kulturen" genannt wird. Mit Weltliteratur meinte Goethe ein "großes Zusammentreten", also ein Weltforum aller Nationen, zu dem schon zu seiner Zeit das "Vorschreiten des Menschengeschlechts" und die damit zusammenhängende Eröffnung "weiterer Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse" führten. Seine positive Haltung diesem weltweiten kulturellen Phänomen gegenüber enthüllte er beim Gespräch vom 31. Januar 1827 mit seinem Sekretär Eckermann wie folgt:

"Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen".

Dieses kulturelle Weltphänomen, auf dessen Vollendung Goethe viel Hoffnung gründete und zu dessen Beschleunigung alle Menschen und besonders Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Publizisten etc. beitragen sollten, stellte er sich aber nicht in der Form einer Verschmelzung aller Nationalkulturen in eine uniforme Weltkultur vor. In dieser Hinsicht präzisierte er in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum: "...dass nicht die Rede sein könne, die Nationen sollen überein denken, sondern sie sollen nur einander gewahr werden, sich begreifen und, wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigsten dulden lernen."

Goethe betonte an anderer Stelle: "Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen lässt, bei der Überzeugung jedoch festhält, dass das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, dass es der ganzen Menschheit angehört."

Ihm ging also darum, dass jede Nation durch "die Verhältnisse aller gegen alle" die anderen kennen lernt, in ihnen "etwas Annehmliches und etwas Widerwärtiges, etwas Nachahmenswertes und etwas zu Meidendes" antrifft, dass "die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urteil der übrigen ausgeglichen werden" und sie (die Nation) durch gleichsam "wiederholte Spiegelungen" zwischen ihr und den anderen, in ihrem neuen Zustande von gegenseitig bereicherten Nationen zum Aufblühen und Ausstrahlen der Humanität beitragen.

Der Tatsache, dass bei diesem Entwicklungsprozess jede Nation etwas zu verlieren hat, war sich Goethe vollkommen bewusst. Darauf wollte er seine Landsleute schon gefasst wissen, indem er schrieb:

"Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl tun, dieser Wahrnehmung nachzudenken."

Das zu Verlierende aber ist bei jeder Nation eben das, was in der gesamten Entwicklung zum Allgemein-Menschlichen nicht nützlich ist und deshalb im Reifungsprozess zur geläuterten Humanität retardierend wäre.

Die meisten Kulturwissenschaftler tendieren heute dazu, jede Vorstellung eines Allgemein-Menschlichen abzulehnen und vielmehr die Existenz aus einer ständigen wechselseitigen Auseinandersetzung der sich immer weiter entwickelnden Kulturen zu schließen. Doch sie bestätigen auch Goethes Überzeugung, dass der Verlust beim Zusammentreten verschiedener Kulturen nicht zum Verschwinden der jeweiligen Eigenheiten führt. Es vollzieht sich hier vielmehr ein dialektischer Prozess, wobei die verschiedenen Nationalkulturen als Subjekte und Objekte einander gegenüber stehen. Der Verkehr miteinander ist als Moment der Analyse im Hegelschen Sinne zu verstehen, aus der eine Synthese als Entwicklungsstufe zur Humanität (in Goethescher Sicht) entsteht. Jede Nationalkultur erfährt dabei eine Entwicklung in ihrer Eigenheit, die aber nicht verloren geht. Mit ihrer neuen Eigenheit wird sie sich an der weiteren Entwicklung der Weltgemeinschaft zur geläuterten Humanität beteiligen, woraus eine weitere kulturelle Eigentümlichkeit entstehen wird. In diesem dialektischen Prozess von "stirb und werde!" geht keine Nationalkultur verloren. Sie erfährt vielmehr eine Metamorphose. Über die Metamorphose schrieb Goethe:

"Die Idee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige,
aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben."

Die Metamorphose erfolgt nämlich aus dem Zusammenspiel von Zentrifugal- und Zentripetalkräften, die sowohl jedes Einzelteil eines organischen Ganzen als auch das organische Ganze selbst mit dem Gesetz der Priorität und der Steigerung belegen und betreiben. Dies gilt für jede Gesellschaft, die als eine Art von Organismus zu betrachten ist. In ihr spielt jedes Individuum, jede Gruppe, jede Körperschaft die Rolle des Organs. Als Zentrifugalkräfte im Individuum sind alle Tendenzen wie Selbstliebe, Selbstsucht, Eigensinn, Egoismus etc. zu betrachten, die es vom gemeinschaftlichen Interesse mehr oder weniger entfernen. Zentripetal sind Tendenzen wie Nächstenliebe, Solidarität, Hilfsbereitschaft etc., die es mit der Gesellschaft verbinden. Der Bestandteil eines Organismus, in dem das Zentrifugale zu stark ist, löst sich letzten Endes gänzlich vom Organismus ab und ist dann dem Absterben anheim gegeben.

Bei den unfreien, naturgebundenen Organismen wie den Pflanzen und den Tieren wird dieser ganze Mechanismus von der Natur selbst geregelt und geleitet. Aufgrund der Freiheit des Menschen aber ist die menschliche Gesellschaft, wie Goethe es mit Recht schrieb, "weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich (...), notwendig und zufällig, absichtlich und blind". Dies bedeutet, dass der Mensch selbst gegen das zu starke Zentrifugale in sich zu kämpfen und das Zentripetale darin zu entwickeln hat. In bezug auf die Weltgemeinschaft spielt jede Nation, jede Nationalkultur die Rolle des Individuums. Sie hat mit den zentrifugalen und den zentripetalen Kräften in sich ähnlich wie jeder Einzelmensch umzugehen.

Goethe hatte in dieser Beziehung zweifellos eine sehr hohe Meinung von seinen Landsleuten und selbstverständlich von der deutschen Kultur. Er hätte sonst bei seiner Überlegung über die Entstehung einer Weltliteratur nicht folgendes geschrieben:

"Ich bin überzeugt, dass eine Weltliteratur sich bilde,
dass alle Nationen dazu geneigt sind und
deshalb freundliche Schritte tun.
Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken,
er wird eine schöne Rolle bei diesem großen Zusammentreten
zu spielen haben."

Worin diese schöne Rolle der Deutschen bei der Entstehung der Weltliteratur bestehen wird, skizzierte Goethe an anderer Stelle wie folgt:
"... es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist. Alle Nationen schauen sich nach uns um, sie loben, sie tadeln, nehmen auf und verwerfen, ahmen nach und entstellen, verstehen oder missverstehen uns, eröffnen oder verschließen ihre Herzen: dies alles müssen wir gleichmütig aufnehmen, indem uns das Ganze von großem Wert ist."
Ich will trotz allem nicht glauben, dass sich Goethe über den Edelmut und die Toleranz auch seiner heutigen Landsleute geirrt hat.

Prof. Kokora Michel Gnéba,
Gastprofessor für interkulturelle Literaturwissenschaft
an der Universität Hannover, zur Zeit in Département d´ Allemand
Université d´ Abidjan – Cocody
Bp. V. 34 Abidjan
Rép Côte d´Ivoire

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