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„Dritte Option in Niedersachsen“

Antwort der Niedersächsischen Sozialministerin Daniela Behrens auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen


Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 24.02.2022, TOP 19


– Es gilt das gesprochene Wort –

„Kennen Sie „Hermaphroditos“? Hermaphroditos ist in der griechischen Mythologie die Figur, deren Körper sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufweist. Geschlechtliche Uneindeutigkeit beschäftigt die Menschen seit der Antike.

In unserer Zeit spiegelt sich Hermaphroditos wider in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei standesamtlichen Einträgen neben „männlich“ und „weiblich“ ein dritter Geschlechtereintrag wie „anders“ oder „divers“ möglich sein muss, weil alles andere, so das Gericht im Jahre 2017, diskriminierend sei. Als Antwort auf das historische Urteil änderte man in Deutschland das Personenstandsgesetz.

Mit der Einführung der sogenannten dritten Option „divers“ gehört Deutschland zu den wenigen Staaten weltweit, die die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern offiziell anerkennen. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland damit eine Vorreiterrolle ein.

Die Frage, die sich uns stellen muss, ist: Hält die gesellschaftliche Debatte mit der Weiterentwicklung des Rechts Schritt?

Die Große Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen holt die Umsetzung des Rechts und die Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, ins Landesparlament. Dafür bedanke ich mich herzlich.

Großer Dank gilt auch den Mitarbeitenden in den Ministerien, die sich umfangreich an der Beantwortung der Anfrage beteiligt haben. Ich finde, wir haben zur Dritten Option in Niedersachsen einen guten Überblick zur Umsetzung und zu Aktivitäten der Landesregierung bekommen.

Es ist gut, dass wir heute darüber diskutieren, denn die Mehrheit unserer Gesellschaft tut sich sicherlich schwer mit uneindeutigen Geschlechterkategorien. Darunter leiden vor allem die Menschen mit einer anderen Geschlechtsidentität als weiblich oder männlich.

Sie sind eine Minderheit in Deutschland und Niedersachsen. Die Qualität einer Demokratie zeigt sich daran, wie man mit vermeintlichen Minderheitenthemen umgeht.

Unser gemeinsames Ziel muss sein, Diskriminierung abzubauen und die Betroffenen in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Als Landesregierung wollen wir alle Menschen dabei unterstützen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und auszufüllen.

Intergeschlechtlichkeit war lange ein Tabuthema. Der amerikanische Schriftsteller Jeffrey Eugenides bekam für seinen Bestseller „Middlesex“, der das Leben eines Hermaphroditen erzählt, 2003 den Pulitzer-Preis. Sein Buch gilt als einer der bedeutendsten Romane des 21. Jahrhunderts. In der Gesellschaft verhallte das Thema. Erst Jahre später entstand eine neue Diskussion um sexuelle Identität, um Transgender und Homoehe, verbunden mit der Frage, was überhaupt männlich und was weiblich ist. So rückten auch Intersexuelle ins Licht der Öffentlichkeit.

Rund um das Thema Geschlecht und Geschlechtervielfalt kursieren viele Unsicherheiten.

Fakt ist: Das menschliche Geschlecht wird an verschiedenen biologischen Merkmalen im Körper abgelesen:

  • In den Chromosomen,
  • in den Gonaden (Keimdrüsen, in denen für die Fortpflanzung relevante Sexualhormone produziert werden)
    und
  • an den äußeren Geschlechtsmerkmalen.

Stimmen hier nicht alle eindeutig überein – entweder weiblich oder männlich – sprechen wir von Intergeschlechtlichkeit.

In Niedersachsen leben zwischen 8.000 bis 20.000 intergeschlechtliche Menschen. Der Deutsche Ethikrat schätzt 80.000 intergeschlechtliche Personen in Deutschland, in Niedersachsen also ca. 8.000. Die Schätzungen von Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen gehen von rund 200.000 in Deutschland aus, also 20.000 in Niedersachsen.

Und die Bundesärztekammer nimmt an, dass jährlich etwa 150 Kinder mit so genannten Varianten der Geschlechtsentwicklung geboren werden. Demnach kämen in Niedersachsen rund 15 intergeschlechtliche Neugeborene pro Jahr zur Welt. Sie sehen an der Beantwortung der Anfrage, dass wir für 2018 drei Geburten erfasst haben, welchen weder das männliche noch das weibliche Geschlecht zugewiesen werden konnte. In 2019 sind keine Kinder erfasst.

In Niedersachsen wurde seit der Änderung des Personenstandsrechts in 285 Fällen eine Änderung des Geschlechtseintrags nach § 45 b PStG vorgenommen. Vor allem für diese Personen ist die Änderung des Personenstandsgesetz ein Meilenstein.

Für die Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität spielt das Recht eine entscheidende Rolle. Sie können sich mit Geschlecht und Vornamen so im Personenstandsregister eintragen lassen, wie sie es für richtig halten. Damit spiegelt das Personenstandsregister die eigene, tatsächliche Identität wider.

Die Umsetzung dieser Entscheidung kann aber nicht rein rechtlich geschehen. Vielmehr bedarf es gleichzeitig eines sozialen Wandels. Ein Wandel mit dem Ziel der Anerkennung, des Respekts und der Selbstverständlichkeit unterschiedlichster Geschlechtsidentitäten auch im Alltag.

Ich bin ehrlich: Ich wünschte, ich könnte hier stehen und sagen, dass – fast fünf Jahre nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil - die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten in Niedersachsen längst anerkannt und vollkommen gleichgestellt ist.

Ich wünschte, ich könnte sagen, die Umsetzung und Anerkennung weiterer Geschlechtsoptionen ist nicht nur für die Landesregierung, sondern für alle Institutionen und Menschen in Niedersachsen selbstverständlich. Das kann ich leider nicht sagen.

Jenseits von den Sozialwissenschaften oder im medizinischen Kontext wurde Intergeschlechtlichkeit bislang nur sehr rudimentär wahrgenommen. Es braucht also Debatte – auch als Aufklärungsarbeit – und Unterstützung der Betroffenen.

Die Landesregierung unterstützt – über mein Haus – seit Jahren – die Aktiven in diesem Bereich. Wir fördern über das Queere Netzwerk Niedersachsen e. V. (QNN) die Beratungs- und Aufklärungsarbeit zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in Niedersachsen. Dabei ist die „Landeskoordination inter*“ ein Kooperationsprojekt zwischen dem Landesverband QNN und dem Intergeschlechtlichen Menschen Landesverband Niedersachsen e.V. (IMLVNDS). Betroffene werden unterstützt, Eltern beraten und für Aufklärung gesorgt.

In Niedersachsen bieten die IMLVNDS e. V. Geschäftsstelle sowie der Verein für sexuelle Emanzipation in Braunschweig eine ehrenamtliche Erstberatung an. Darüber hinaus verfügt Niedersachsen über verschiedene Selbsthilfeangebote.

Als Land fördern wir Informationskampagnen, Fortbildungsveranstaltungen, Aktionen zur Sensibilisierung von Fachkräften sowie spielen diese wichtigen Themen in ausgesuchte Konferenzen ein.

Wichtig ist auch, die Aufklärungsarbeit im Gesundheitsbereich auszubauen. So arbeitet die Universitätsmedizin Göttingen (UMG) eng mit dem Queeren Zentrum Göttingen zusammen. Zwischen UMG und dem Queeren Zentrum Göttingen gibt es einen regelmäßigen Austausch.

Es gibt Informationen in die medizinischen Qualitätszirkel und Fortbildungsveranstaltungen, um die medizinische Beratung zu verbessern. Auch die Vernetzung mit den thematisch passenden Ambulanzen in Niedersachsen gehört dazu.

In der Lehre für Medizinstudierende ist das Thema Intergeschlechtlichkeit verankert. Auf dem Niveau der Fachärzte ist es Teil der Weiterbildung.

So werden in der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen insbesondere in den Facharztgebieten Psychiatrie und Psychotherapie, Gynäkologie, Urologie sowie Kinder- und Jugendmedizin Erkenntnisse zur Intergeschlechtlichkeit vermittelt.

Wichtig ist auch, in der Geburtsversorgung das Thema zu berücksichtigen. So stehen wir im Austausch mit den Studiengangskoordinationen des neuen Studiengangs der Hebammenwissenschaft in Niedersachsen.

Die Aktivitäten sollen auch den gesellschaftlichen Wandel zum Thema unterstützen. Aus Erfahrung wissen wir alle, dass das ein langjähriger Prozess ist.

Auf rechtlicher Seite muss nach und nach, bei jeder Änderung eines Gesetzes oder einer Richtlinie, natürlich überprüft werden, ob diese der Anerkennung und Umsetzung einer Lebensrealität mit mehr als zwei Geschlechtern entgegensteht. Und falls ja, ist diese Diskriminierung auszuräumen.

Wir arbeiten daran, dass im Bewusstsein der Bevölkerung neben weiblich und männlich auch weitere Geschlechtsoptionen mitgedacht werden.

Und dazu gehört auch, dass wir z.B. Straftaten, Hass und Hetze gegen intergeschlechtliche Personen verhindern bzw. aufklären. Das Themenfeld „Geschlecht/Sexuelle Identität“ wurde zum 01.01.2020 als Unterbegriff der „Hasskriminalität“ im „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes - Politisch motivierte Kriminalität“ eingeführt.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Ampel in Berlin bereits angekündigt hat, ein Selbstbestimmungsgesetz zu verwirklichen, das das Transsexuellengesetz ablösen und die eigene Geschlechtsidentität unterstützen wird.

Begrüßungswert sind auch Planungen zum Abstammungsrecht, um verschiedenste Familienkonstellationen letztlich wertzuschätzen und rechtlich abzusichern.

Die Große Anfrage geht auch auf den Punkt der Sprache ein. Sprache ist ein mächtiges Gut. Sie beeinflusst unsere Denkmuster und zeigt Wirkung auf unser Gegenüber.

Die Gender-Sprache wird derzeit heiß diskutiert. Es geht bei der gendersensiblen Sprache auch um die Wahrnehmung von intergeschlechtlichen Menschen. Wir diskutieren den Gender-Stern, den Gender-Gap oder den Doppelpunkt. Mit genau diesen Symbolen oder der kurzen Pause beim Aussprechen sollen sprachlich alle Menschen eingeschlossen werden. Männer, Frauen und Menschen, die sich nur teilweise oder gar nicht als Mann oder Frau sehen.

Die Antworten auf die Große Anfrage macht auch deutlich, wie wir als Landesregierung immer wieder unseren Sprachgebrauch reflektieren. Der Sprachgebrauch wird den Situationen angepasst. Dabei haben sich verschiedenste Ansätze im Kreis der Mitarbeitenden gezeigt.

Mit dem „Niedersächsischen Gesetz zur Förderung der Gleichstellung der Frau in der Rechts- und Verwaltungssprache“ haben wir in Niedersachsen seit 1989 Regelungen für die Parallelnennung der weiblichen und männlichen Sprachform festgelegt. Schon das ist auch heute für viele immer noch schwierig. Wie oft müssen wir noch lesen: Wir nutzen die männliche Sprachform, Frauen sind mitgemeint. Das widerspricht eindeutig den gesetzlichen Vorgaben und es ist falsch. Mitgemeint ist nicht immer mitgedacht. Das haben uns der Feminismus und Feministinnen in den vergangenen Jahrzehnten beigebracht.

Sprach-Regelungen sind selbstverständlich nicht in Stein gemeißelt. Sprache wandelt sich, nimmt gesellschaftlichen Fortschritt auf. Daher denken wir schon heute darüber nach, ob und in wie weit die Verwendung von Gender-Symbolen mit den bisherigen Vorschriften im Einklang stehen. Es geht darum, wie neben der expliziten Benennung von Frauen ebenfalls die sprachliche Sichtbarmachung von intergeschlechtlichen Personen erfolgen kann.

Ich komme noch einmal zurück auf Hermaphroditos. Würde sich Hermaphroditos heute in Niedersachsen akzeptiert fühlen? Ich hoffe es.

In der Landesregierung haben wir die Weichen gestellt. Die Umsetzung der Dritten Option ist in den Ressorts unterschiedlich weit fortgeschritten. Alle Ressorts sind dabei, den Weg in einer Gesellschaft mit mehr als zwei Geschlechtern zu begleiten. Wir arbeiten also an mehreren Fronten.

Einerseits geht es darum, intergeschlechtliche Menschen in der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen. Andererseits wird das Ziel verfolgt, die Gesellschaft für genau diese Thematik zu sensibilisieren. Die Menschen müssen abgeholt und mitgenommen werden. Unverständnisse müssen aufgeklärt und die Sensibilisierungsarbeit vorangetrieben werden. Die heutige Debatte des Landtages hilft dabei.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“


Presseinformationen

Artikel-Informationen

erstellt am:
24.02.2022

Ansprechpartner/in:
Stefanie Geisler

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