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GRAZIELLA BOARA-TITZE: "Ich will kein Geld, aber Anerkennung"

Von Annette Volland


Mitten in Afrika brachte man ein Kind zum Zelt des italienischen Reiseteams. Das Kind war von einer giftigen Schlange gebissen worden. Graziella Boaro, damals 24 Jahre alt, Lehrerin von Beruf und die einzige Frau in der Gruppe, überlegte nicht lange. "Serum hatten wir dabei – wir brachten damals Medikamente nach Uganda -, aber keiner hatte je zuvor eine Injektion gemacht. Trotzdem war klar: Für das Kind war es die einzige Chance." Also tat sie, was nötig war. Und das Kind wurde wieder gesund.

Kein Zögern, kein sich Zieren. Graziella Boaro-Titze ist eine entschlossene Frau. Verantwortung macht ihr keine Angst. Auch 23 Jahre nach ihrer Afrika-Reise wäre die Vorsitzende des Ausländerbeirates in Bad Pyrmont eine Bereicherung für jeden caritativen Transport durch die Wüste: 1,78 sportliche Meter in Jeans, blauem Anorak und flachen Schuhen. Braune Naturwellen umrahmen das ungeschminkte Gesicht. Die lebhafte Stimme hat Kraft – auch Überzeugungskraft.

Als sie aus Afrika zurückkam, war sie statt einem Monat zehn unterwegs gewesen. Ihre Stelle als Lehrerin war weg. "Ich hatte immer noch solche Lust, etwas von der Welt zu sehen!" Wunschland Kanada brauchte keine Lehrerin. Aber eine deutsche Eisdiele suchte eine Serviererin. Warum nicht? dachte sie und packte die Koffer. "Die Arbeit war für mich frustrierend. Die Menschen in Bad Pyrmont sind vorsichtig mit Fremden. Ich dachte lange, ich gehe wieder und habe ziemlich isoliert gelebt. Bis ich anfing, an der Volkshochschule Italienisch zu unterrichten. Da konnte ich zeigen, was ich kann." Bald folgte ihr erster ehrenamtlicher Einsatz. Als Dolmetscherin zeigte sie Pyrmonter Jugendlichen die italienische Partnerstadt Anzio.

Plakatgroße Foto-Portraits von Afrikanerinnen schmücken den kleinen Flur ihrer Wohnung. Dazwischen stehen Anrufbeantworter, Fax und Telefon. Für ihre Arbeit als Chefserviererin in der Kurklinik braucht Graziella Boaro-Titze diese Ausrüstung nicht unbedingt. Aber hier kommen Infos an für die Vorsitzende des Ausländerbeirates, Mitglied in der AG Kommunale Ausländerbeiräte Niedersachsen, im Flüchtlingsrat, bei Pro Asyl und im Pyrmonter Jugend- und Sozialausschuss. Acht bis zehn Stunden in der Woche umfasst ihr ehrenamtlicher Einsatz im Normalfall. Um Gruppen nach Anzio zu begleiten, nutzt sie ihre Urlaubstage. "Manchmal ist das alles echt zu viel", gibt sie zu. "Aber man bemerkt die Missstände, wenn man einmal angefangen hat, sich zu engagieren. Das Nein sagen wird immer schwerer!" Ein Schrank im Wohnzimmer birgt Dankesplaketten aus Anzio, daneben Strandgut von einer Insel bei Neapel. Fotos von Hafen und Meer an den Wänden. Eine Bildergruppe zeigt Nebel überm Weserberg-land: Klaus Titze ist Hobbyfotograf wie seine Frau.

Vor ein paar Jahren wollte der stellvertretende Kommissariatsleiter der Pyrmonter Polizei für einen Besuch in der Partnerstadt italienisch lernen. Seine Lehrerin in der Volkshochschule war Graziella. "Wir fuhren mit der gleichen Gruppe nach Anzio, und da hat’s im Mondschein gefunkt", lächelt sie. Vor vier Jahren hat das Paar einen 15jährigen adoptiert, der allein aus Albanien geflüchtet ist. "Die Erlaubnis zu bekommen war sehr schwierig. Wenn mein Mann nicht Polizist wäre, wäre es wohl nichts geworden."

Klaus Titze teilt die Interessen seiner Frau. Zusammen sind sie zweimal nach München gefahren, als dort die Wehrmachts-Ausstellung zum ersten Mal gezeigt wurde. Sie waren in Amsterdam, um von Niederländern zu lernen, wie sie mit Minderheiten zusammenleben. In einer engagierten Gruppe haben beide den alten jüdischen Friedhof in Pyrmont mit Spendengeldern restauriert.

Seit diese Arbeit abgeschlossen ist, setzt sich die Gruppe für den "Gutscheintausch" ein. "Das ist ziviler Ungehorsam", freut sich Graziella Boaro-Titze. "Wir kaufen Asylbewerberinnen und -bewerbern ihre Einkaufsgutscheine ab." Die Stadt hat ihr geschrieben, das sei nicht legal. "Das ist mir wurscht! Ich ziehe Parallelen zur Geschichte. Die Verbrechen an den Juden haben auch schleichend angefangen. Wir müssen etwas machen, damit sich so etwas nicht wiederholt!"

Ihre Ehrenämter haben ihr neue Freunde gebracht – "aber auch Feinde, ganz klar." Die fragen zum Beispiel, was sie das alles eigentlich angehe. Ob sie Jüdin sei? "Warum? Muss ich Jude sein, wenn ich mich um Flüchtlinge und jüdische Gräber kümmere?! Ich will etwas tun für die, die es nicht selbst können!"

Einen "sozialen Touch" habe sie schon immer gehabt, der sei in ihrer Familie verbreitet. Aber keine Spur von Heiligenschein. "Ich will für diese Arbeit kein Geld, aber ich will Anerkennung! Und ich will etwas erreichen", sagt sie. Und wenn Provinz-Politikerinnen und Politiker nicht sehen wollen, wie Flüchtlinge in diesem Land behandelt werden, dann holt sie eine Ausstellung ins Rathaus und hängt Fotos von der Leibesvisitation so, dass die Blicke an einem gebeugten, nackten Hinterteil nicht vorbei können. "Da hat jemand ein Pflaster darüber geklebt. Das muss man sich mal vorstellen!" – Es war ein ungeeigneter Versuch, Graziella Boaro-Titze zu bremsen. So etwas spornt sie an.

Annette Volland, Dipl. Journalistin, Hannover

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