Franca Pollano: SECHS STUNDEN TÄGLICH
Ein Eisbrecher, eine Bewerbungshelferin und eine Zwei in Deutsch
In einem kalten Novembertag sitzen in Hameln ein Mann und zwei Frauen bei Kaffee und Butterkuchen, die sich vorher noch nie getroffen haben. Etwas eint sie: Tahir Berisha, Melanie Perzel und Susanne Köbele engagieren sich freiwillig und unbezahlt im AKAK e.V. Deswegen hat der Geschäftsführer Reiner Wollnik sie zum Termin mit "Betrifft" eingeladen. 1999 soll gefeiert werden: Der Hamelner Arbeitskreis Ausländische Kinder e.V., nicht nur von frechen Kids "AKAK" genannt, wird zwanzig. "Bei solchen Jubiläen lobt man ja gern Politiker. Aber diesmal wollen wir besonders mit den Menschen feiern, die in den ganzen Jahren beim AKAK die Arbeit gemacht haben", kündigt Reiner Wollnik an. Der Sozialarbeiter, der die Einrichtungen des Vereins seit 1991 hauptberuflich leitet, hat in den 80er Jahren selbst als "Ehrenamtlicher" bei Veranstaltungen und im Vorstand begonnen. Jetzt ist er vor allem für die Betreuung und Beratung von Flüchtlingen zuständig und koordiniert die Arbeit im Verein. Und so fing es an: 1979 taten sich ein paar Hamelner Bürgerinnen und Bürger zusammen und halfen Kindern aus italienischen, türkischen und jugoslawischen Arbeitnehmerfamilien bei den Schularbeiten. Das war die Geburtsstunde des Vereins, daher stammt sein Name. Und deswegen denken viele noch heute, er wäre nur für Kinder da. Dabei ist der AKAK längst gewachsen, wie es sich für ein gesundes Kind gehört. Trotzdem kennt man ihn im Landkreis immer noch nur mit dem Rufnamen. Der Nachname ist zu lang, um ihn sich einzuprägen: "Internationales Beratungs- und Begegnungszentrum für Aussiedler, Flüchtlinge, ausländische Arbeitnehmer und deutsche Bürger im Landkreis Hameln-Bad Pyrmont" heißt es korrekt. 70 Mitglieder hat der Verein zur Zeit – die meisten davon sind Deutsche. "Es wäre schön, wenn wir mehr aus dem Kreis der Betroffenen hätten. Viele haben aber genug damit zu tun, mit dem eigenen Schicksal klarzukommen."
Die Dolmetscher brechen das Eis
Seit vier Jahren ist der AKAK auf 300qm in Hamelns Südstadt untergebracht. Das Haus gehört der Stadt. Vorher war es ein Jugendzentrum und das ist noch zu ahnen. Am Beratungszimmer für Flüchtlinge und Aussiedlerinnen und Aussiedler vorbei, geht es im Hochparterre direkt in einen Veranstaltungssaal: am linken Ende eine kleine Bühne, am rechten die Theke. Hier wird gefeiert und in Seminaren gelernt, hier treffen sich jugendliche Aussiedlerinnen und Aussiedler in ihrer Freizeit oder Politikerinnen und Politiker zu Diskussionen mit Hamelner Bürgerinnen und Bürgern. Und hier sitzen heute die drei Ehrenamtlichen beisammen, die in so unterschiedlichen Bereichen arbeiten, dass sie sich bisher nicht kannten. Tahir Berisha ist Jurist und hat in seiner Heimat 15 Jahre als Anwalt einer großen Firma gearbeitet. 1993 musste er aus dem Kosovo fliehen und ist inzwischen in Deutschland als Flüchtling anerkannt. Vor einem dreiviertel Jahr hat der 44jährige als Praktikant beim AKAK angefangen und eine Info-Broschüre zum Ausländerrecht übersetzt. "Ausländer brauchen mehr Informationen", sagt er. "Fast alle Kosovo-Flüchtlinge in Hameln sind ungelernte Leute, sie kommen mit Formularen und Gesetzen nicht zurecht. Sie gehen meist zu spät in die Beratung. Und auch ein Anruf ist für sie nicht so einfach." Dass der AKAK weder den Behörden noch der Kirche angehört, sondern ein unabhängiger Verein ist, sei für Zuwanderer oft nicht transparent, weiß Wollnik. "Solche kostenlosen und nichtstaatlichen Initiativen gibt es in vielen Herkunftsländern nicht." Vermittler und Dolmetscher wie Tahir Berisha helfen, das Eis zu brechen – sei es bei Besuchen in Familien oder bei Gesprächen in der Jugendstrafanstalt Hameln. Aber Tahir Berisha will mit seiner Arbeit nicht nur für andere etwas tun. Er sorgt auch für sich selbst. "Nur wer nach 15 Jahren ohne Arbeit dasteht, weiß, was das heißt!" sagt er. Vergeblich hat er sich vorher bei einem deutschen Kollegen um ein Praktikum bemüht, um den Anschluss zur Juristerei zu halten. "Sechs Monate Sprachkurs sind für Intellektuelle viel zu wenig. Und als der Kurs zu Ende war, hatte ich keinen Kontakt und keine Übung mehr. Ich habe schon wieder viel vergessen." Sein Engagement bei AKAK fordert ihn und bringt ihn mit Menschen in Kontakt. "Natürlich hätte ich lieber einen richtigen Arbeitsplatz, aber wenn nicht, ist die Zeit hier wenigstens nicht verloren." Inzwischen bitten ihn manchmal auch Behörden, als Dolmetscher auszuhelfen. Hinter dem großen Saal, in dem Tahir Berisha von seiner Arbeit erzählt, gibt es eine Teeküche und kleine Büros. Dort stehen die Schreibtische der zur Zeit 12 bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins. Aber sie sind viel unterwegs. In fünf Hamelner Schulen beraten sie Kinder, Eltern und Lehrende, begleiten Kinder zum Teil im Unterricht. Außer im Keller des eigenen Hauses bietet der Verein in sechs Schulen im Landkreis Hausaufgabenhilfe an. In Bad Münder und Hessisch Oldendorf übt ein Mitarbeiter mit ausländischen Jugendlichen die deutsche Sprache. Ein anderer begleitet Aussiedlerinnen und Aussiedlern nach der Schule ins Berufsleben. Und in der Jugendstrafanstalt Hameln-Tündern betreut ein Sozialarbeiter straffällige Migranten und Flüchtlinge sowie Jugendliche in Abschiebehaft. Ehrenamtliche helfen in allen Bereichen mit. Aber nicht für jede und jeden ist der Einsatz im "Knast" das richtige. Hier sind Geduld und Belastbarkeit besonders gefragt, aber auch Konti-nuität. Denn es dauert, bis die Jugendlichen Vertrauen gefasst haben. Und sie brauchen verlässliche Kontakte. Man kann einen angekündigten Besuch nicht absagen, ohne schlimm zu enttäuschen.
Ehrenamt muss man sich leisten können
Hinter dem AKAK-Haus liegt ein Bolz- und Spielplatz mit Basketballkorb, Blockhaus, Rutsche und mehr. Von April bis Oktober toben sich dort ausländische Kinder nach der Schule aus. "Wir suchen noch mehr Eltern, die die Betreuung mit übernehmen", sagt Reiner Wollnik. "Aber mit dem ehrenamtlichen Einsatz läuft es zur Zeit nicht so dolle." Schon unter den bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist durch befristete Stellen über ABM und BSHG recht häufig ein Wechsel angesagt. Bei Ehrenamtlichen kann das noch sehr viel schneller gehen. Zwar haben sich etwa 20 Menschen im letzten halben Jahr bei AKAK engagiert, davon wie gewohnt zwei Drittel Frauen. Doch früher waren es noch mehr Freiwillige. Und sie blieben länger. Zum Beispiel Hausfrauen, deren Kinder ausgezogen waren, oder Lehrerinnen im Ruhestand, die gern noch für ein paar Stunden mit Kindern arbeiten wollten. Heute sind die Helferinnen und Helfer oft sehr jung. Sie kommen für einige Wochen, um die Zeit zwischen Schulabschluss und Berufsausbildung sinnvoll zu füllen. "Ganz schwierig", findet Reiner Wollnik das, denn die Kinder müssen sich oft schnell wieder von liebgewonnenen Betreuerinnen trennen. Aber der Sozialarbeiter versteht: "Ehrenamt muss man sich leisten können. Und der Druck, Geld zu verdienen, ist auf Studierende zum Beispiel groß." Melanie Perzel ist dem AKAK treu geblieben. Die angehende Erzieherin kam als Praktikantin in die Hausaufgabenhilfe. "Jetzt mach ich’s, weil es mir Spaß macht. Es ist schwer, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen. Aber ich freue mich über Erfolge, zum Beispiel die erste Zwei in einer Klassenarbeit." Im Keller des AKAK-Hauses brütet die 21jährige einmal in der Woche mit bis zu acht Kids über den Schulheften, inzwischen hat sie auch die Einzelförderung von zwei Kindern übernommen. Etwa sechs Stunden in der Woche investiert sie neben ihrer Ausbildung. Es ist schwieriger geworden, neue Helferinnen und Helfer anzusprechen. "Die Zeit der Infostände ist vorbei, und wir kommen nicht mehr oft dazu, öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen zu machen." Eher wirbt eine Praktikantin eine interessierte Freundin, die dann mitarbeitet. "Es ist nicht ganz einfach, bei uns einzusteigen", räumt Reiner Wollnik selbstkritisch ein. "Man kann nicht einfach anrufen und durchstarten." Ein intensives Gespräch ist nötig, um abzuklären, welche Bereiche sich eignen. So werden ältere Menschen in Familien leichter als Betreuerinnen und Betreuer akzeptiert als ganz junge. Und Jüngere kommen in der Hausaufgabenhilfe oft besser mit den lebhaften Kindern zurecht. "Da gab es gerade bei älteren Freiwilligen Enttäuschungen, weil die Kinder nicht so brav und dankbar waren, wie man sich das vorgestellt hatte."
Gefahr, sich zu übernehmen
Susanne Köbele aus Fischbek kann über mangelnde Dankbarkeit nicht klagen. Die 37jährige Hausfrau und Mutter von vier Kindern hatte zunächst in der Kirche des Dorfes einen Kinderkreis geleitet. "Als irgendwann mal niemand kam, bin ich mit meiner Gitarre einfach umgezogen – zu den vielen Kindern ins Asylbewerberheim. Es ist toll, wie begeistert die sind." Über die Kinder bekam Susanne Köbele auch Kontakt zu den Flüchtlingsfamilien. "Irgendwann merkt man: es geht hier nicht nur um Soziales, sondern auch um rechtliche Fragen." Susanne Köbele nahm Kontakt zum AKAK auf, um für sich und ihre Schützlinge Unterstützung zu bekommen. "Es ist wichtig, vor Ort Mittlerinnen wie Frau Köbele zu haben", betont Reiner Wollnik. "Die Beratung muss ins Umfeld passen. Von Ferne könnten wir wenig erreichen." In ihrem Dorf ist Susanne Köbele manchmal damit befasst, etwas mehr Distanz herzustellen. "Ich kann nicht durchs Asylbewerberheim laufen und hinterher zehn Liter Tee intus haben", sagt sie. Etwa sechs Stunden täglich arbeitet sie zur Zeit ehrenamtlich. Sie schreibt Bewerbungen ("zur Zeit fünf im Monat an McDonalds"), hilft bei der Wohnungssuche und beim Briefwechsel mit Ämtern. "Gerade in den Außenstellen besteht die Gefahr, sich zu übernehmen", wirft Reiner Wollnik vorsichtig ein. Bekannte und Nachbarn von Susanne Köbele schütteln manchmal den Kopf über ihr Engagement. "Eine arbeitslose Freundin sagt, das würde sie niemals ohne Bezahlung machen. Aber ich würde das, was ich tue, nicht für Geld machen. Und ich bin viel zufriedener als sie!"
Franca Pollano, Journalistin, Hannover