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Elcin Kürsat-Ahlers: GEGEN DEN STROM

Freiwilligenarbeit für, durch und mit Migrantinnen und Migranten


In der ständischen Gesellschaft des Mittelalters und bis zum Ausgang des ersten Weltkrieges entstammte die Hilfe für Notleidende und die Freiwilligenarbeit den besitzenden Klassen und dem Bürgertum. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer waren von der Sorge um den Lebensunterhalt weitgehend entlastet. Trotz der Beteiligung der Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft an der ehrenamtlichen Wohlfahrtspflege nach 1918 ist die Freiwilligenarbeit bis heute eine Domäne der Bourgeoisie geblieben. Mit dem zunehmenden Übergang der sozialen Wohlfahrtsaufgaben von Kirchen auf den Staat in der Genese des Sozialstaates setzt heute die hauptamtliche Tätigkeit der Professionellen die Standards und die Basisversorgung, so dass die Freiwilligenarbeit zunehmend lediglich als Ergänzung und Verbesserung betrachtet wird. Während die Freiwilligenarbeit in der deutschen Gesellschaft in der Regel auf dem Modell der komplementären Ergänzung freitätiger und professioneller Hilfe beruht, dominiert im Ausländerinnen- und Ausländerbereich in Wirklichkeit das Substitutionsprinzip in zweierlei Hinsicht:

1. Da die Leistungen des deutschen Sozialstaates nicht auf die Bedürfnisse und Nöte der Migrantinnen und Migranten zugeschnitten sind – ein langsamer Wandel ist inzwischen spürbar -, werden manche dringend erforderlichen Fürsorgemaßnahmen notgedrungen nur durch die engagierte Freiwilligenarbeit in der Migrantinnen- und Migrantenkolonie bewerkstelligt – so gut wie möglich. D.h., die Migrantinnen- und Migrantenkolonie organisiert auf ehrenamtlicher Basis und als Selbsthilfe politische, soziale und kulturelle Dienstleistungen, die im staatlichen Wohlfahrtsangebot fehlen, aber unter Migrationsbedingungen existentiell erscheinen. Manche dringend notwendigen sozialen Dienste für die Migrantinnen und Migranten können erst durch die Freiwilligenarbeit hervorgebracht werden. Sie ist keine parallele Tätigkeit zur professionellen Arbeit wie in der Mehrheitsgesellschaft, sondern einzig und existentiell. Daher blühte die ehrenamtliche Hilfe in den Ausländervereinen seit den 70er Jahren auf, während die Bereitschaft zu ihr in der deutschen Bevölkerung von 49% (1962) auf 37% sank.

2. Die Substitution kann aber auch in Form von Konkurrenz zwischen professioneller und freitätiger Hilfe in Erscheinung treten, wenn die deutsche professionelle Sozialarbeit wegen kultureller Wert- und Normkonflikte von dem Migrantinnen- und Migrantenklientel nicht angenommen oder gering geschätzt wird. Sie geht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei. Solche Konflikte treten z.B. häufig in der Frauenarbeit auf. Die Freiwilligenarbeit in den Einwanderinnen- und Einwandererkolonien führt fast ohne Ausnahme zur individuellen Überlastung, da diese Funktionärinnen und Funktionäre für ihren eigenen Erwerb in einem Vollbeschäftigungsverhältnis stehen. Für die deutsche Freiwilligenarbeit hat man festgestellt: "Die Tendenz geht von Allroundhelferinnen und -helfern zur speziellen Helferin und Helfer, zu zeitlich überschaubaren Tätigkeiten mit Kostenersatz bzw. Anerkennungshonorierung." Im Falle der Migrantinnen und Migranten trifft das nicht zu. Unter ihnen hat sich bisher keine Spezialisierungstendenz durchgesetzt; sie sind für die Fürsorge und Probleme ihres Klientels in allen denkbaren Lebensbereiche zuständig. Und eine Honorierung durch das Klientel stellt den Idealismus und das soziale Engagement in Frage und würde das Prestige schädigen, obwohl sich die gewerblichen Übersetzungsbüros selbstverständlich für die gleichen Dienste bezahlen lassen. Da die Einwanderinnen- und Einwandererorganisationen finanziell permanent am Rande der Existenz stehen und keinen ausreichenden Zugang zur staatlichen Förderung haben, bedeutet die an sie gebundene Freiwilligenarbeit häufig sogar eine finanzielle Subventionierung der Institution aus eigener Tasche. Da die Freiwilligenarbeit mit dem Wir-Gefühl, d.h. mit dem Radius der Wir-Identifikation engstens zusammenhängt, ist eine ethno-religiöse Segmentierung und Grenzziehung kennzeichnend. Zwischen Ehrenamtlichen und Klientel ist die gleiche ethnische, nationale bzw. religiöse Zugehörigkeit der Regelfall – sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch unter den einzelnen Einwanderinnen- und Einwanderergruppen. Die internationalen Begegnungszentren bilden eine Ausnahme, da die dort freiwillig Arbeitenden sich als "Weltbürgerinnen und -bürger" definieren und ihre Identität und ihr Wir-Bild aus einer über den national-religiös abgegrenzten, partikularen Kollektiven schwebenden, international orientierten, d.h. aus einer erweiterten Wir-Identifikation ableiten. Das Engagement und Interesse der Migrantinnen undMigranten für die Freiwilligenarbeit bei deutschen Organisationen liegt höher als umgekehrt das der Deutschen für eine freiwillige Mitarbeit bei den Vereinen und Institutionen der Einwanderinnen und Einwanderer. Denn der Zugang bzw. die Zugehörigkeit zu den Organisationen und Verbänden der Mehrheitsgesellschaft bedeutet für die Minderheitsangehörigen – die mit kulturellem, sogar zum Teil biologischem Stigma behaftet sind – einen Aufstieg und soziales Prestig. Umgekehrt brächte die freiwillige Mitarbeit der Deutschen in Ausländerinnen- und Ausländer-Organisationen sie in unmittelbare Nähe des sozialen Stigmas. Insofern gehört zu dieser Richtung der grenzüberschreitenden Freiwilligenarbeit – durch die Deutschen für die Migrantinnen und Migranten – eine starke politisch-ideologische internationalisierte Orientierung/Überzeugung. Die solidarische Hilfe, bei der der Schein erweckt wird, die soziale Dis-tanz zwischen der Helferin und dem Helfer und der/m Hilfebedürftigen aufzuheben, konstituiert ein weiteres Merkmal der Freiwilligenarbeit in der Einwanderinnen- und Einwandererkolonie. Die leitende und werbende Idee ist die kollektive Anstrengung für sozialen Wandel, der der gesamten Gruppe zugute kommen soll. Durch den Appell an die Gruppensolidarität versuchen die Migrationsvereine und -institutionen und ihre Anführerinnen und Anführer kompakte, sozial undifferenziert kohesive Gemeinschaften zu produzieren, die ideell die rückwärtsgewandten Sehnsüchte nach verlorenen Großfamilie-, Dorf- oder Stadt-viertelgemeinschaften in der Heimat zu erfüllen scheinen. Die Eingliederung der Aktivistinnen und Aktivisten der "Elite" der Einwanderinnen- und Einwandererkolonien in solche Funktionen verringert ihre Frus-trationen angesichts ihrer blockierten Aufstiegsorientierung sowie sozialen Diskriminierung und vermittelt ein Scheingefühl der sozialen und politischen Integration und Beteiligung an den Willensbildungsprozessen – eine symbolische Partizipation an Gesellschafts- und Staatsgeschehen. Die ehrenamtlichen Funktionen der Migrantinnen und -migrantenelite wirken zähmend. Die Freiwilligenarbeit hat auch ich zweierlei Hinsicht eine Rekrutierungsfunktion:

1. Eine erfolgreiche Laufbahn der Ehrenamtlichen läuft meist über zwei Phasen: Über die erwiesenen Erfolge der ehrenamtlichen Dienste in den Selbsthilfegruppen wird die/der sozial und politisch engagierte Migrantin und Migrant zu Ehrenämtern in den politischen Parteien, Gewerkschaften, Verbänden der Mehrheitsgesellschaft vermittelt. Da eine reale, politische und soziale Partizipation der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland nach wie vor fehlt, erfüllen diese "ehrenamtlichen Vertreterinnen und Vertreter" eine Legitimationsfunktion hinsichtlich des Repräsentationsgrundsatzes und zwar dort, wo die demokratische Teilnahme fehlt.

2. Die Freiwilligenarbeit dient als Sprungbrett zu den wenigen bezahlten Stellen in der Verwaltung, bei den Behörden oder Verbänden, die speziell für die Betreuung der Migrantinnen und Migranten und Migrationsfragen eingerichtet werden. Erst nach einer durch ehrenamtliche Dienste erwiesenen besonderen Eignung, Kompetenz und Durchhaltevermögen erhalten die Angehörigen der Einwanderinnen und -einwandererelite eine Rekrutierungschance: Mensch muss sich vorher bewähren, um für eine dotierte Stelle gewählt zu werden. Ehrenamtliche der Einwanderinnen- und Einwandererkolonien konstituieren somit eine Gruppe von Brückenköpfen, die durch ihre Kompetenz und ihren erlangten Status in beide Kulturen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Einwanderinnen- und Einwandererkolonien vermitteln. Da sie zunehmend die Kontakte und Kommunikationskanäle zu den politischen Anstalten und Machtzentren der Mehrheitsgesellschaft monopolisieren, erlangen sie in beiden Gesellschaften eine bedeutende Machtstellung; in der Kolonie viel stärker als in den deutschen Organisationen. Ihre Machtquelle beruht auf der Sprachlosigkeit, d.h. mangelnden Sprachkenntnissen und mangelnder Integrations- und Kulturkompetenz der Mehrheit der Migrantinnen und Migranten in der ersten Generation in der deutschen Gesellschaft auf der einen Seite, auf der anderen Seite auf strukturellen Barrieren in dem soziopolitischen System der Bundesrepublik, die einen demokratischen und chancengleichen Zugang der Migrantinnen und Migranten zur Politik, zum sozio-kulturellen Leben – d.h. zu Aufstiegs- und Statuskanälen – blockieren. Eine das Ïdeutsche Gewissen¦ entlastende, minimale Interessenvertretung der Migrantinnen und Migranten erfolgt durch die Ehrenämter.

Dr. Elcin Kürsat-Ahlers, Institut für Soziologie, Universität Hannover

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