Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung Niedersachsen klar Logo

Grenzen ziehen - Randgruppen und Gewalt in der offenen Jugendarbeit

Hans Wahne


Wie gehe ich mit verhaltensauffälligen Besucherinnen und Besuchern und "Gewalt" im Jugendzentrum um? Diese Frage stellt sich immer wieder für diejenigen, die im Bereich der offenen Jugendarbeit verantwortlich tätig sind.

Ich selbst leite die Abteilung Jugendpflege der Gemeinde Seevetal, die als Flächengemeinde (rd. 39.000 Einwohner) direkt an der südlichen Hamburger Landesgrenze gelegen ist. Offene Kinder- und Jugendarbeit wird hier als freiwillige Leistung im Sinne des § 11 KJHG schon seit über 20 Jahren in Absprache mit dem Landkreis Harburg als Jugendamtsträger geleistet. Zwei Jugendfreizeitstätten sowie ein betreuter Abenteuerspielplatz sind die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass neben Schule, Elternhaus und Verein zusätzliche Maßnahmen seitens der Kommune notwendig sind, um Einflüssen, die wir in Bezug auf junge Menschen als negativ empfinden, wirksam entgegentreten zu können. Dabei stehen die Bereiche Drogen und Vandalismus (Graffiti) an erster Stelle. Aufgrund einer guten Haushaltslage sind wir in Seevetal in der Lage, die einzelnen Einrichtungen mit je drei hauptamtlichen Kräften (Sozialpädagoge/Erzieher) sowie außerdem mit Honorarkräften auszustatten. In anderen Gemeinden des Landkreises sind die Möglichkeiten oft wesentlich eingeschränkter, nicht selten ist der Gemeindejugendpfleger in Personalunion gleichzeitig auch Leiter des örtlichen Jugendzentrums.

Die Aufgabenstellung der Jugendhäuser ist kurzgefasst in der Regel folgende:

  • Freizeitgestaltung

  • Lernen sozialer Kompetenz

  • Jugendschutz

  • Einzelfallhilfen.

Gewalt im Jugendzentrum

Wenn ich hier von "Gewalt" spreche, so meine ich nicht das übergeordnete Regularium, dass zwangsläufig in einem allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Konsens das menschliche Miteinander regelt. Sondern gemeint ist das diesen Regeln entgegengesetzte Handeln, das ausschließlich egoistischen Motiven dient und sich in körperlicher oder psychischer Gewaltausübung gegenüber den Mitmenschen ausdrückt. Die Gewalt gegen Sachen in Form von Vandalismus geht dabei parallel einher. Elementare Regeln des Umgangs werden außer Acht gelassen oder – anders ausgedrückt – die Durchsetzung persönlicher Interessen erfolgt oft unter Missachtung der allgemeinen Rechtsprechung bzw. der auf ihr basierenden Hausordnung des Jugendzentrums.

These 1: Gewalt fängt im Kleinen an!

Die Gewalt im negativen Sinne wird von den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oft erst dann wahrgenommen, wenn diese spektakulär und bedrohlich auftritt. Leidvolle Erfahrungen in der Vergangenheit haben uns aber gezeigt, wie wichtig es ist, schon auf scheinbar unbedeutende Anzeichen zu achten, die Vorstufen oder auch Indikatoren von Gewalt sein können: sei es das Spucken auf den Fußboden, das Wegwerfen von Zigarettenkippen direkt vor den Augen der Betreuerin oder des Betreuers oder eine beiläufige Beschimpfung von Aufsichtspersonen. Wer in diesen Situationen als Pädagoge nicht Sensibilität für besagte Indikatoren entwickelt, den Konflikt scheut und nicht unmittelbar auf das Geschehen reagiert, wird erleben müssen, wie sich Gewalt schrittweise aufbaut. Schnell ist dann das Kind in den Brunnen gefallen und die Situation im Haus nicht mehr kontrollierbar.

These 2: Randgruppenarbeit ist im Jugendzentrum nicht machbar!

Des öfteren habe ich schon erleben müssen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der offenen Jugendarbeit es versäumen, die eigenen Grenzen des pädagogisch Machbaren festzulegen. Dieses geschieht nicht selten aus dem Vorsatz heraus, alle Probleme, die im Hause auftauchen, auch unbedingt lösen zu wollen oder zu müssen. Unterstützt wird diese Haltung von außen durch die Erwartungen der Öffentlichkeit bzw. von Seiten des Trägers, der von den Fachleuten schlüssige Konzepte zur jeweiligen Problemlösung erwartet nach dem Motto "von der Straße holen und in Obhut nehmen".

Schon die Einzelfallhilfe, die allgemein als ständiges Angebot im Jugendzentrum gesehen wird, kann schnell die Möglichkeiten der Betreuer überfordern. So etwa, wenn es nicht nur um Schulprobleme und mangelnde Lernmotivation geht, sondern um Sucht, sexuellen Missbrauch, Persönlichkeitsveränderungen oder Gewalt im Elternhaus. Die Grenzen des Helfens und Unterstützens werden rasch deutlich. Es bedarf dann der Hilfe von außen – andere Institutionen wie Jugendamt, Therapeuten oder Polizei sind plötzlich gefragt.

Noch deutlicher zeigt sich die Problematik der Grenzziehung bei Gruppen, die aufgrund ihrer expliziten Lebenssituation besonders anfällig für Gewalt sind. So haben wir erlebt, wie eine Gruppe von türkischen Jugendlichen, die in "ihrem" Hamburger Jugendzentrum als Gruppe ein unbefristetes Hausverbot erhalten hatten, versuchten, in einem unserer Jugendzentren Fuß zu fassen. War der erste Eindruck von ihr noch positiv, so stellte sich nach und nach heraus, dass die neue Besuchergruppe sich mehr und mehr an Eigenmächtigkeiten herausnahm. Dabei arbeitete sie mit versteckten und offenen Drohungen. Das Ziel war eindeutig festgelegt: Herrschaft im Jugendzentrum. Es dauerte nicht lange, bis die Stammbesucher das Haus mieden und es zum offenen Konflikt mit dem Personal kam. Dabei wurden die Pädagogen als "Ausländerfeinde" massiv bedroht. Diese fühlten sich um so ungerechter behandelt, denn sie hatten bis zuletzt versucht, die türkische Gruppe in den vorhandenen Besucherstamm zu integrieren – und übersahen dabei, dass die besagte Gruppe überhaupt kein Interesse an Integration hatte. Die Folgen waren schließlich Polizeieinsatz, Hausverbote und zeitweilige Schließung des Jugendzentrums.

Einen ähnlichen Ablauf gab es mit einer Gruppe von jungen Kosovo-Albanern, die – isoliert in Flüchtlingsheimen – in den Jugendzentren ihre viel zu lange Freizeit verbrachten. In den Häusern nur zeitweise sozialarbeiterisch betreut, waren sie zu oft allein gelassen mit ihrer Situation, die geprägt war von der Angst um die zurückgebliebenen Angehörigen, die enttäuschten materiellen Erwartungen und die ungewisse Zukunft (Duldung ohne Asylanerkennung). Die Folge war, dass die Pädagogen in den Häusern sich plötzlich vor der Aufgabe gestellt sahen, Flüchtlingen bei ihren Problemen zuhören und für diese ständig da sein zu müssen. Für die eigentliche Jugendarbeit blieb da kaum mehr Zeit. Auch in diesem Fall wurde der Fehler gemacht, das Klientel als solches für das Haus tragbar zu halten, anstatt Politik und Öffentlichkeit schnellstens auf diese unhaltbare Situation hinzuweisen und entsprechende unterstützende Maßnahmen anzufordern. Als die Hauptamtlichen im Laufe der Zeit mehr und mehr selbst zur Zielscheibe der Flüchtlinge wurden und z.T. massiven Drohungen ausgesetzt waren, kam endlich der Hilfeschrei. Und auch hier war die Situation so weit vorangeschritten, dass das Haus einen ausgesprochen schlechten Ruf in der Jugendszene bzw. bei deren Eltern bekommen hatte. Einschneidende konzeptionelle Maßnahmen waren nötig, um wieder Vertrauen und Akzeptanz für das Haus zu schaffen.

Wege aus der Gewalt

Konzeption als Orientierung

Für die klare Abschätzung der eigenen Möglichkeiten ist eine Konzeption für das Haus unumgänglich. Diese sollte laufend fortgeschrieben und überarbeitet werden. Begleitend soll Supervision festgefahrene Positionen wieder öffnen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Chance eröffnen, ihren Arbeitsbereich aus der Distanz zu betrachten. Nur mit der realistischen Einschätzung des Leistbaren ist eine Überforderung zu vermeiden, die Frustration, Rückzugsverhalten, Krankheit und Kündigung zur Folge haben kann. Nur mit einem klar definierten Arbeitsrahmen kann ich Hilfe von außen einfordern und Verantwortlichkeit auch auf andere übertragen!

Vernetzung

Jugendarbeit wie auch die Sozialarbeit als Gesamtes stellt kein isoliertes Eiland dar. Statt dessen sollte die Zusammenarbeit mit allen für die eigene Arbeit relevanten gesellschaftlichen Institutionen gesucht werden. In diesem Sinne gewinnt immer mehr der Begriff der Vernetzung an Bedeutung. So hat sich in Seevetal der Präventionsrat Seevetal e.V. gebildet, in dem Vertreter der Jugendpflege, Kommunalpolitiker, Kirchen, Schulen, Wirtschaft und die Polizei mitarbeiten. Gemeinsam werden Projekte, die präventiv gegen Gewalt und Vandalismus ausgerichtet sind, geplant und in die Wege geleitet: Sportveranstaltungen, Patenschaften für besprühte Buswartehäuschen, Aktionswochen in den Schulen usw. Zum ersten Male erleben wir eine koordinierte Zusammenarbeit mit den Schulen, die in der Vergangenheit der außerschulischen Jugendarbeit in der Regel sehr skeptisch gegenüberstanden. Gewachsen ist der Verein aus der gemeinsamen Entschlossenheit, Zerstörungen am Ortsbild und Ausbrüchen von Gewalt unter Jugendlichen nicht mehr tatenlos zuzuschauen, sondern "etwas zu tun".

These 3: Die Sozialarbeit steht einer Zusammenarbeit mit der Polizei immer noch skeptisch gegenüber.

Diesen Vorwurf kann man sicher auch gegenüber der Polizei selbst erheben. Wir haben aber vor Ort mit der Polizei seit einigen Jahren zu einer außerordentlich fruchtbaren Zusammenarbeit gefunden, allein aus der gemeinsamen Erkenntnis heraus, dass die Polizei alleine mit ihren Mitteln die gesellschaftlichen Probleme nicht angehen, geschweige denn lösen kann und umgekehrt die Sozialarbeit genau so wenig mit ihren Möglichkeiten bewirken kann. Ohne zum verlängerten Arm der Polizei werden zu wollen, gilt es für die Sozialarbeit, alteingestammte Positionen zu verlassen und dabei Dogmen aufzugeben, die bis in die 80iger Jahre hinein noch an den Hochschulen Gültigkeit hatten.

Projektarbeit

Erscheint eine Gruppe anfällig gegenüber Gewalt, Drogen und abweichendem Verhalten, so sind zumindest Überlegungen für eine projektorientierte Arbeit unumgänglich. So haben wir in einem Gemeindeteil die Situation, dass in einem Sozialwohnungsviertel sehr viele Russlanddeutsche wohnen, bei denen gerade die jugendlichen Familienangehörigen doch enorme Probleme mit der Integration aufweisen. Der "Kulturschock", der auf den Einzelnen einwirkt, wird noch verstärkt durch das oft unfreiwillige Übersiedeln, denn in der Regel waren es die Eltern, die dies entschieden haben.

Da diese Gruppe seit rund einem Jahr im örtlichen Jugendzentrum sehr stark vertreten ist, mussten die Mitarbeiter im Haus sehr schnell feststellen, dass die vorhandenen Möglichkeiten vor Ort zur ausreichenden Betreuung nicht hinlänglich sind. So wurde die Einrichtung für Jugendsozialarbeit, die für den gesamten Landkreis zuständig ist, eingeschaltet (RESO-Fabrik). In Zusammenarbeit mit dieser läuft eine Projektplanung, die auf die genannte Zielgruppe ausgerichtet ist. Neben dem Schaffen der finanziellen Rahmenbedingungen war das Anbieten eines Sprachkurses für uns vordingliches Ziel. Denn das Beherrschen der deutschen Sprache, die von vielen jugendlichen Übersiedlern nur ungenügend gesprochen wird, ist grundlegende Voraussetzung für eine wirkliche Integration. Weitere Maßnahmen werden sein: Freizeiten, Werkstattprojekte, Zusammenarbeit mit der sozialen Familienhilfe, der Jugendarbeit und der Polizei im unterstützenden Sinne, wobei ein "Schuss vor den Bug" (sprich: Jugendstrafe) nicht immer eine schlechte Lösung sein muss.

Hans Wahne, Leiter der Abteilung Jugendpflege der Gemeinde Seevetal

zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln