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Abschlussbericht zu medizinhistorischer Studie zu Medikamentenversuchen an Kindern und Jugendlichen zwischen 1945 und 1978 vorgelegt – Ministerin Carola Reimann: „Studie zeigt erschreckendes Ausmaß“

Eine im Juni 2019 im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vorveröffentlichte Studie Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978 legte Hinweise vor, dass im besagten Zeitraum Arzneimittelversuche in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken des Landes sowie in sogenannten Fürsorgeeinrichtungen durchgeführt wurden. Dabei wurden internationale ethische Standards verletzt und mutmaßlich Rechtsbrüche begangen.

Jetzt hat das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) im Auftrag des Ministeriums einen zweiten Bericht zu diesem Thema vorgelegt. In diesem werden die Erkenntnisse aus der ersten Studie anhand des Studiums von Kranken- und Heimakten vertieft und konkretisiert. Die verantwortliche Wissenschaftlerin des IGM, Christine Hartig, wertete dafür Akten von Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken in Wunstorf und Königslutter, der Universitätsklinik Göttingen und von Erziehungsheimen aus. Hinweise auf Arzneimittelstudien, die an diesen Einrichtungen durchgeführt wurden, fanden sich insbesondere in den Krankenakten der KJP Wunstorf sowie für ein Fürsorgeheim, das von dem damaligen Leiter der KJP Wunstorf betreut wurde.

Sozialministerin Carola Reimann erklärt dazu: „Die wissenschaftliche Untersuchung dieser Vorgänge belegt noch einmal sehr eindrücklich das erschreckende Ausmaß dieser illegalen und zutiefst unethischen Arzneimittelstudien in niedersächsischen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken. Was wir heute für die Betroffenen tun können, ist die Missstände der damaligen Zeit historisch aufzuarbeiten und öffentlich zu machen und das erlittene Leid anzuerkennen.

Der Bund, die Länder, die Kirchen sowie deren Wohlfahrtsverbände haben hierfür die Stiftung Anerkennung und Hilfe ins Leben gerufen. Die Aufgabe dieser Stiftung ist es, Personen zu unterstützen, die in der Vergangenheit als Kinder oder Jugendliche in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an den Folgewirkungen leiden."

Anträge für eine finanzielle Unterstützung können bei der Stiftung noch bis Ende 2020 gestellt werden: http://www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de/DE/Startseite/start.html

Hintergrund:

Im Rahmen der wissenschaftlichen Untersuchung von Christine Hartig erhärteten sich die bereits 2019 erzielten Ergebnisse, dass die Arzneimittelversuche in der Regel dazu dienten, Indikationsbereiche von Arzneimittelgruppen wie Neuroleptika, Schlafmittel, Antidepressiva und Bromverbindungen auszudehnen und Dosierungsempfehlungen zu geben. Ein Ziel war es dabei, eine Medikation zu finden, mit der verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche leichter betreut werden könnten. Dabei wurden Nebenwirkungen billigend in Kauf genommen. In den Akten fanden sich Hinweise, dass der Wunsch nach einer solchen Medikation von Einrichtungen der Jugendhilfe an Kliniken herangetragen wurde. Mitverantwortlich war ein unzureichender Personalschlüssel in den entsprechenden Einrichtungen des Landes. Darüber hinaus akzeptierten öffentliche Stellen Arzneimittelversuche als probates Mittel, um Arzneimittelkosten zu reduzieren.

Hartig schätzt, dass an der KJP Wunstorf zwischen 1953 und 1976 ca. 4 Prozent der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen in Wunstorf von Arzneimittelversuchen betroffen waren.

Betroffen von den Versuchen waren Kinder und Jugendliche mit allen sozialen Hintergründen. Kinder und Jugendliche aus vulnerablen Umständen, wie etwa aus staatlicher Fürsorge, wurden nicht bevorzugt rekrutiert. Wohl aber wurden – in Übereinstimmung mit den Studienzielen – vermehrt betreuungsintensive Kinder und Jugendliche in die Studien eingeschlossen.

Aufgrund der in den Akten festgehaltenen Kommunikationen, so Hartig, verfestigt sich der bereits im ersten Bericht geäußerte Eindruck, dass nicht regelhaft über die Durchführung von Arzneimittelstudien informiert und das Einverständnis eingeholt wurde.

Arzneimittelversuche wurden auch in weiteren niedersächsischen Kliniken und Heimen durchgeführt, allerdings waren hierzu entweder keine Akten in verwertbarer Form erhalten, oder die Einrichtungen konnten aus Kapazitätsgründen nicht in der Studie berücksichtigt werden. Außerdem verwehrte ein großer kirchlicher Heimbetreiber Hartig den Zugang zu seinem Archiv.

Neben den Arzneimittelstudien befasst sich die Studie auch mit der Häufung von Pneumenzephalographien in niedersächsischen Kinder- und Jugendpsychiatrien der 1960er Jahre. Pneumenzephalographien waren vor der Einführung der Computertomographie die einzige Möglichkeit, das Gehirn bildhaft darzustellen. Sie waren mit sehr schmerzhaften Nebenwirkungen verbunden. Mit der Revision des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1961 stieg die Anzahl der Pneumenzephalographien, die im Rahmen von Fürsorgegutachten durchgeführt wurden – d.h. ohne therapeutischen Nutzen – sprunghaft an. Sie wurden insbesondere in der KJP Wunstorf auf Veranlassung des Jugendamtes Hannover durchgeführt. Hintergrund war, so Hartig, dass die Diagnose einer organischen Hirnschädigung – festgestellt etwa durch eine Pneumenzephalographie – den Ausschluss von betreuungsintensiven Kindern und Jugendlichen von Leistungen der Jugendfürsorge ermöglichte. Bis in die 1970er Jahre wurden dadurch auf der Grundlage einer Diagnose ohne funktionellen Bezug Kinder und Jugendliche systematisch als behindert klassifiziert. Anstelle die Kinder und Jugendlichen im Fürsorgesystem zu fördern, wurden sie in das System der Behindertenhilfe überführt.

Weder bei den Arzneimittelstudien noch bei den Pneumenzephalographien im Rahmen von Fürsorgebegutachtungen handelt es sich um ausschließlich niedersächsische Phänomene. Sie stehen laut Hartig im Kontext mit einem gesellschaftlichen Konsens der 50er und 60erJahre, der den Rechten von Kindern kaum Aufmerksamkeit schenkte und der Minderjährige in Heimen und psychiatrischen Einrichtungen gesellschaftlich ausschloss. Dies ermöglichte das Durchführen von Arzneimittelstudien, auch dort, wo Rechte durch ungenügende Aufklärung verletzt wurden und obwohl international strengere wissenschaftliche und ethische Standards galten.

Den gesamten Abschlussbericht finden Sie im Internet unter:

www.ms.niedersachsen.de > Gesundheit & Pflege > Gesundheit > Psychiatrie und psychologische Hilfen.

Presseinformationen Bildrechte: Land Niedersachsen

Artikel-Informationen

erstellt am:
01.09.2020

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