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Hans-Jürgen Baum: Gesundheit: Den Rückzug verstehen

Chronische Nierenerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen von Aussiedlern


Chronische Niereninsuffizienz ist bei Kindern und Jugendlichen in der Regel mit zeitaufwendigen Dialysebehandlungen, schmerzhaften Operationen und langen stationären Aufenthalten verbunden. Darüber hinaus erfordert die Erkrankung auch von den Familien der jungen Patienten gravierende Anpassungsleistungen: Im Dialysestadium sind Trinkmengen und Diäten besonders zu beachten, was auch die Umstellung von Ess- und Kochgewohnheiten in der Familie erfordert. Außerdem müssen regelmäßige Kontrollen in der Nierenambulanz in den Tagesablauf integriert werden, die Versorgung und Beaufsichtigung von Geschwisterkindern stellt die Familien vor zusätzliche organisatorische Probleme.

Ende 1998 wurden in der nephrologischen Ambulanz der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) 156 Kinder und Jugendliche mit einer chronischen Niereninsuffizienz behandelt, darunter 10 Kinder bzw. Jugendliche aus Aussiedlerfamilien. Sie stammten aus Ländern der ehemaligen UdSSR (Kasachstan und Russland) bzw. Rumänien und waren vorwiegend zwischen 1994 und 1998 nach Deutschland ausgewandert. Die zugewanderten Aussiedlerfamilien mit einem chronisch kranken Kind hatten neben der Anpassung an die Erkrankung auch oftmals Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden und mussten sich zudem relativ unvorbereitet auf teilweise unbekannte und hochdifferenzierte Behandlungsmethoden einstellen.

Rückzug

Gerade zu Beginn der medizinischen Behandlung fühlten sich zugewanderte Familien damit überfordert, Behandlungsmethoden wie Dialyse oder eine Transplantation als einzige lebensrettende Möglichkeit anzunehmen. Oftmals kam es daher zur Ablehnung wichtiger medizinischer Maßnahmen. Die behandelnden Ärzte und Schwestern standen den Widerständen der Familien zunächst hilflos gegenüber. Den betroffenen Familien konnte der notwendige medizinische Eingriff, zu dem es meistens keine Alternative gab, nur mit viel Mühe verständlich gemacht werden. Dieser sowohl auf Behandler- als auch auf Patientenseite erzeugte Druck führte häufig zu Stressreaktionen, die sich in Ärger und Enttäuschung beim Personal und Rückzug bei den Patienten äußerten.

Um diese Situation zu entspannen, gab es für die Aussiedlerfamilien von psychosozialer Seite ein Gesprächsangebot. Diese Gespräche nutzten die meisten Familien dazu, auch von den geschichtlichen Hintergründen und sozialen Problemen als ethnische Minderheiten in der ehemaligen Heimat zu berichten.

Hintergründe und Ausreisemotive

Die Integrationsprobleme der Aussiedler in Deutschland lassen sich auch aus ihren leidvollen geschichtlichen Erfahrungen herleiten. Deutsche gehörten in Teilen der ehemaligen Sowjetunion, Rumänien und Polen lange Zeit zur unterdrückten Minderheit. Sprache und Religion waren bis nach dem 2. Weltkrieg verboten und mussten heimlich ausgeübt werden. Tugenden wie Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft, Glaube wurden vor diesem Hintergrund vor allem von der älteren Generation gepflegt und dienten der Stabilisierung der deutschen Gemeinde. Vor allem für die Älteren unter den Aussiedlern galt Deutschland daher als Symbol für die Erfüllung von Hoffnung auf eine bessere Integration.

Diese eher negativen Erfahrungen in den Herkunftsländern gingen einher mit politischen und wirtschaftlichen Ausreisemotiven. Patientenfamilien aus Kasachstan berichteten uns von erheblichen wirtschaftlichen Verschlechterungen, aber auch sozialen und kulturellen Diskriminierungen deutscher und russischer Minderheiten. Ähnliche Erfahrungen mit wirtschaftlichem Chaos und politischer Unterdrückung machte die deutsche Minderheit in Rumänien, während ihre kulturelle Identität dort jedoch eine größere Akzeptanz fand. Russlanddeutsche schienen sich am ehesten an die vorherrschenden politischen und kulturellen Bedingungen angepasst zu haben. Dies wird auch an der zunehmenden Zahl von Eheschließungen zwischen Russen und Deutschen in der ehemaligen UdSSR sehr deutlich. Ihre Ausreisemotive waren häufig eher wirtschaftlich begründet. Die Auswanderungsbewegung übte auch einen starken Nachahmeffekt auf die verbleibenden deutschen Familien aus, die häufig ihren Freunden und Verwandten in die Bundesrepublik folgten.

Die soziale Realität in der Bundesrepublik entsprach jedoch meistens nur in materieller Hinsicht den Wünschen und Erwartungen der Aussiedlerfamilien. Denn viele fühlten sich von der auf Vereinzelung ausgerichteten westlichen Mentalität enttäuscht und überfordert und zogen sich nach ihrer Immigration in die Bundesrepublik mit anderen ausgesiedelten Deutschen oder auch russischen Familien zurück, da sie hier einen erneuten Verlust ihrer ethnischen Identität befürchteten. Die kasachische Mutter eines jungen Patienten äußerte in den Gesprächen, dass ihr "das Russische" viel näher sei als "das Deutsche". Vor diesem Kontext sind sogenannte Verweigerungsreaktionen und Misstrauen der Familien bei komplizierten medizinischen Behandlungen auch aus einem Bedürfnis heraus zu verstehen, sich vor Fremdbestimmung zu schützen und ihre Autonomie zu bewahren.

Jugendliche Migranten in der Kinderklinik

Unter den 10 Aussiedlerfamilien mit einem chronisch kranken Kind gab es vier jugendliche Patienten. Zu den o.g. Schwierigkeiten, sich auf eine andere Kultur einzustellen, kamen bei ihnen krankheitsbedingte Einschränkungen wie längere Fehlzeiten in der Schule hinzu. Dies wirkte sich häufig erschwerend auf die schulische und berufliche Integration der jugendlichen Patienten aus. Die Jugendlichen, im autoritär strukturierten Schulsystem der ehemaligen UdSSR sozialisiert, berichteten von gravierenden Anpassungsproblemen an den liberalen Unterrichtsstil in den deutschen Schulen. Russisch galt in den Schulen als Regelsprache, so dass die nur sehr geringen Sprachkenntnisse jugendlicher Migranten häufig deren Gefühl der sozialen Randständigkeit verstärkten.

Fazit

Im Krankheitsverlauf wurde uns sehr deutlich, dass die Ablehnungs- bzw. Verweigerungsreaktionen der Migranten in Bezug auf die medizinische Behandlung vor allem damit zu tun hatte, dass sich die Aussiedlerfamilien mit der Migration unvorbereitet mit einem für sie fremden Gesellschaftssystem konfrontiert waren und sich damit auch auf unvertraute medizinischen Behandlungsstandards einlassen mussten. In dem Maße, in denen die Behandler Zugang zu der persönlichen Geschichte und den kulturellen Lebensgewohnheiten der Aussiedler bekamen, konnten wir deren ablehnende Haltung gegenüber wichtigen medizinischen Maßnahmen verstehen und einordnen. Dies bewirkte in der Regel eine Entspannung des Patient-Behandlerverhältnisses.

Hans-Jürgen Baum, Dipl.Pädagoge, Abt. Prof. J.H.H. Ehrich, Kinderheilkunde II, Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover

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