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"Viel zu spät" - Ein Gespräch von Swaantje Düsenberg mit Uwe Tatzko

Wer als Flüchtling nach Niedersachsen kommt, ist zunächst zum Nichtstun verurteilt. In der Warteschleife des oft langwierigen Asylverfahrens kreisen die Gedanken dieser Menschen um ihre unsichere Zukunft, um die Existenz ihrer Familie, die auch hier ist oder zurückgelassen werden musste, und vor allem um die Zukunft der Kinder.

In zentralen Heimen auf engstem Raum mit anderen untergebracht, per Sachleistungen versorgt und mit nur ein paar Pfennigen Taschengeld für Zigaretten in der Hand bleibt den Flüchtlingen kaum Handlungsspielraum. Arbeiten dürfen sie nicht, nicht ihre Familien versorgen, sie sollen kein Deutsch lernen, solange nicht klar ist, ob sie bleiben dürfen, und sich auch nicht qualifizieren. Das ist politisch gewollt.

Betrifft sprach mit Uwe Tatzko (Foto unten) darüber, wie es diesen Menschen dabei geht. Der diplomierte Sozialarbeiter und -pädagoge arbeitet seit 1991 mit Flüchtlingen – zunächst im Projekt "Dezentrale Flüchtlingssozialarbeit" im Landkreis Ammerland, dann im Gemeinwesen eines Oldenburger Stadtteils mit hohem Ausländeranteil und seit 1995 im Bereich der beruflichen Qualifizierung von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten.

Betr: Herr Tatzko, bevor ein Flüchtling die erste Hürde des Asylverfahrens genommen hat, unterliegt er dem Arbeitsverbot. Wie lange kann sich das hinziehen?

Tatzko: Er unterliegt nicht nur dem Arbeitsverbot, sondern erfährt auch keine Sprachförderung oder eine andere Qualifizierung. Das kann sich über Jahre hinziehen.

Betr: In welcher Verfassung befinden sich diese Menschen?

Tatzko: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir hier überwiegend über die Männer bzw. Haushaltsvorstände reden. Sie sind einem langwierigen Prozedere ausgeliefert. Das heißt für sie: Ich habe Verantwortung für meine Familie, kann diese Verantwortung aber nicht ausüben. Ich kann meiner Familie keinen Schutz und keine Versorgung bieten. Diese Menschen werden von erheblichen Versagensgefühlen gequält, aber auch von der Unsicherheit, ob sie mit ihrem Schritt nach Deutschland den richtigen getan haben. Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, ob sie bleiben dürfen, und die Bedrohlichkeit dessen, was wir als "deutsche Normalität" bezeichnen. Das gilt übrigens besonders für moslemische Flüchtlinge und ihre Familien.

Betr: Wie reagieren sie auf diese Gefühle?

Tatzko: Die Reaktionen spielen sich zwischen zwei Extremen ab: Das eine ist die schnelle Anpassung und das Negieren ihres eigenen Hintergrundes. Das führt dann häufig zu Orientierungslosigkeit und Verlust der kulturellen Identität. Diese Menschen wollen sich unbedingt sehr schnell integrieren, dürfen aber nicht. Das andere Extrem ist das Festhalten an Familienstrukturen und Traditionen, die nicht selten auch idealisiert werden.

Betr: Aber irgendwann ist die erste Hürde genommen...

Tatzko: ...wenn das gelingt, werden die Flüchtlinge sozusagen in die Gemeinden "entlassen". Jetzt haben sie auch unter Umständen das erste Mal die Chance, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.

Betr: Das ist doch sicher eine riesige Erleichterung?

Tatzko: Das kommt darauf an, ob das bürokratische Prozedere von Erfolg gekrönt ist. Denn Sie müssen sich folgenden Weg vorstellen:
Zunächst sucht sich der Flüchtling eine Arbeitsstelle. Allein dies wird ihm schwer fallen, denn in der Regel spricht er noch sehr schlecht Deutsch und ist auf die Hilfe und Vermittlung anderer Menschen angewiesen.
Dann muss er das Gespräch mit seinem zukünftigen Chef bestehen, der ihn nach seinen Fähigkeiten, seiner Person usw. beurteilt.
Werden sich beide einig, kann es noch lange nicht losgehen. Denn nun muss der arbeitswillige Flüchtling beim Arbeitsamt seine Arbeitserlaubnis beantragen – das heißt, das Formular ausfüllen. An dieser Stelle sind die Flüchtlingssozialarbeiter wichtige Ansprechpartner. Ist dies geschehen, geht das Formular zum potenziellen Arbeitgeber, der Angaben zur zeitlichen, finanziellen und inhaltlichen Ausgestaltung der Tätigkeit zu machen hat. Denn die Arbeitserlaubnis bezieht sich immer nur auf einen klar definierten Job bei diesem Arbeitgeber.
Ist der Antrag eingereicht, muss das Arbeitsamt eine in der Regel achtwöchige Arbeitsmarktbeobachtung vornehmen und dazu eine Stellungnahme abgeben. Im Klartext heißt das: Gibt es einen anderen Arbeitnehmer als den Flüchtling, der diesen Job übernehmen kann?

Betr: Aber das ist doch eine sehr lange Zeit. Ist es nicht so, dass Unternehmen, die den Flüchtling beschäftigen möchten, sehr schnell seine Arbeitskraft benötigen?

Tatzko: Natürlich, sie wollen diese Arbeitskraft oft, weil es im Betrieb "brennt". Deshalb ist der Job häufig auch schon vergeben, wenn der Antrag endlich genehmigt ist. Dann geht alles wieder von vorne los.

Betr: ... und in der Zwischenzeit läuft das Asylverfahren weiter und die Flüchtlinge erhalten Sozialhilfe oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz...

Tatzko: So ist es. Aber auch, wenn es mit der Arbeitsstelle geklappt hat, bleiben die Flüchtlingsfamilien abhängig von der Sozialhilfe, denn diese Jobs sind häufig schlecht bezahlt. Hat eine Familie sagen wir etwa 2.000 Mark vom Sozialamt erhalten und das Einkommen des erwerbstätigen Haushaltsvorstandes beträgt jetzt 1.500 Mark, so muss weiter ergänzende Sozialhilfe in Höhe von 500 Mark gezahlt werden. In kaum einem Fall wird die Familie durch die Arbeit des Mannes hinterher über mehr Geld verfügen.

Betr: Die Motivation, sich eine Tätigkeit zu suchen, ist also nicht sehr hoch.

Tatzko: Das kann man so nicht sagen. Sie hängt immer vom jeweiligen Aufenthaltsstatus des Flüchtlings ab. Wenn es eine Bleibeperspektive gibt, ist die Motivation sehr hoch, es aus eigener Kraft zu schaffen. Hier setzen auch viele Qualifizierungsprojekte an. Wer sprachlich und beruflich qualifiziert ist, hat größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Vorausgesetzt, er bekommt die entsprechende Arbeitsgenehmigung.

Betr: Welche Veränderungen halten Sie darüber hinaus für sinnvoll?

Tatzko: Wir sollten uns immer wieder klar machen, dass das Asylrecht ein Gastrecht ist, das immer auch die Aufnahmegesellschaft in die Pflicht nimmt. So sollten die Grundbedingungen für eine Integration von Anfang an stimmen. Dazu gehört auf jeden Fall die frühe Sprachförderung. Mir ist klar, dass das politisch nicht gewünscht wird. Hier wird nach dem Motto verfahren: erst die Entscheidung, vielleicht müssen sie ja wieder gehen. Aber diese Sichtweise greift zu kurz. Selbst wenn ein Flüchtling wieder ausreisen muss – manchmal vergehen bis dahin mehrere Jahre -, so hat er eine neu erlernte Sprache im Gepäck, vielleicht sogar eine berufliche Qualifizierung. Aus dem Blickwinkel der Entwicklungsförderung, die Deutschland ohnehin in vielen Ländern leistet, kann das nur von Vorteil sein. Darf der Flüchtling jedoch bleiben, so steht seiner raschen Integration viel weniger im Wege als bisher. Denn im Moment setzen alle Maßnahmen erst dann ein, wenn eine Bleibeperspektive bereits entstanden ist. Und das ist viel zu spät.

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